Naturschutz
Reservate, Parks und Biotope
Die Grenzen zwischen Land und Meer sind fließend im Westen Estlands, vor der Küste der Ostsee-Insel Saaremaa, die vielen Deutschen noch unter ihrem alten Namen Ösel ein Begriff ist. So wird das kleine Eiland Vilsandi im Herzen des gleichnamigen Nationalparks bei hohem Wasserstand zweigeteilt, auf dem Nachbarinselchen Vaika hat Regen- und Meerwasser den felsigen Untergrund unterspült und bizarre Karsterscheinungen hinterlassen. Andernorts siegt das Land über die See: Seit der Eiszeit hebt sich der Boden an, Zentimeter um Zentimeter. Immer neue Klippen ragen aus dem Meer, kleine Erhebungen werden zu Inseln, Inseln zu Halbinseln. Und wie in anderen Nationalparks an der Ostsee wird das Gesicht von Küste und Inseln noch heute von Wind und Wellen geformt.
Die zerklüftete Küste und die kleinen Inseln und Holme des Nationalparks sind ein Paradies für Tiere. Jeden Februar kommen Kegelrobben an Land, um ihren Nachwuchs auf die Welt zu bringen, während sich Wasser- und Zugvögel auf den Riffen und Holmen ringsherum niederlassen: Eiderenten und Gänsesäger, Bergenten und Nonnengänse, Seemöwen, Weißwangengänse und Fischadler. Dass dieses Idyll zu wahren und zu schützen ist, erkannte man zum Glück früh.
Der Erste, der sich für die Inseln einsetzte, war weder Politiker noch Biologe, sondern ein einfacher Leuchtturmwärter namens Artur Toom. Um die Tiere vor Jägern und Küstenbewohnern zu bewahren, die anrückten, um die Eier zu sammeln, pachtete er einige Holme und Riffe und stellte sie unter seinen persönlichen Schutz. Gleichzeitig nahm er Kontakt mit dem Rigaer Naturforscher-Verband auf. Mit Erfolg: Schon 1910 wurden ein Teil der Insel Vilsandi sowie einige Felsriffe zum ersten Naturreservat der baltischen Länder erhoben. Zunächst trug es den schönen Namen "Vogelkönigreich Vilsandi". Später wurde es umbenannt, erweitert und bekam neue Schutzkategorien verliehen, etwa 1957, als es zum Naturschutzgebiet erklärt wurde.
Zu Sowjetzeiten wurde nicht nur Vilsandi, sondern sämtliche estnische Inseln und große Teile der Küste isoliert, waren sie doch als westliche Vorposten der Sowjetunion von großer strategischen Bedeutung. Hunderte Inselbewohner wurden gezwungen, die militärischen Sperrgebiete zu verlassen - eine tragische Entwicklung für die Bewohner und gleichzeitig ein Glücksfall für die Natur. Denn so blieben unberührte Landschaften erhalten, die andernorts in Europa nur schwer zu finden sind. So erstaunt es nicht, dass die westestnischen Inseln bereits 1990 zum Biosphärenreservat der Unesco erklärt wurden.
"Heute ist Vilsandi außerdem einer von fünf Nationalparks in Estland", sagt Brita Merisalu, Sprecherin des estnischen Umweltministeriums. Wie in Deutschland unterscheidet auch das kleine Land im Norden des Baltikums verschiedene Schutzgebiete mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Auflagen: Es gibt Nationalparks und Naturparks, Biosphärenreservate und schützenswerte Biotope, Landschaftsschutzgebiete und Naturwaldreservate. Ein jedes unterliegt anderen Auflagen. Dass Vilsandi nicht nur zum Biosphärenreservat, sondern zusätzlich zum Nationalpark erklärt wurde, ist vor diesem Hintergrund durchaus sinnvoll. "Im Vordergrund eines jeden Schutzgebiets stehen leicht unterschiedliche Schwerpunkte und Schutzzwecke", sagt Jürgen Maaß, Sprecher im Bundesumweltministerium. So stehe in Nationalparks die Natur in ihrer ursprünglichen Form im Vordergrund, während bei Biosphärenreservaten deutlich mehr die Kulturlandschaft und die naturschonende Wirtschaftsweise betont würden, der menschliche Einfluss also etwas größer als in Nationalparks sei.
Durch den doppelten Schutz ist Vilsandi weitgehend vor jenen Problemen gefeit, denen sich viele Naturschutzgebiete im Ostseeraum stellen müssen. Heute sind es nicht mehr Eiersammler und Jäger, die eine Gefahr für Schutzgebiete bedeuteten, so Brita Merisalu, sondern die Nachfrage nach touristischen Attraktionen wie Golfplätzen und Feriendörfern. Hinzu kommen Scharen von Erholungssuchenden, die am liebsten mitten im Schutzgebiet ein Ferienhäuschen errichten möchten.
Während sich andere Teile des westestnischen Biosphärenreservats, wie etwa die touristisch gut erschlossene Insel Saaremaa, in den letzten Jahren wieder zu beliebten Wohn- und Urlaubsorten entwickelt haben, ist Visandi selbst nicht ohne Weiteres zugänglich. Touristen, die den Nationalpark besuchen möchten, können die Inselwelt nicht auf eigene Faust erkunden, sondern müssen sich einer Führung anschließen. So ist gesichert, dass weiterhin nicht der Mensch, sondern Wind und Wellen das Antlitz des Parks formen.
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Hamburg. Sie ist Mitglied des Osteuropa-Netzwerkes "n-ost" und berichtet regelmäßig über die drei baltischen Staaten.