Meerespolitik
Die Europäische Union will Ökonomie und Ökologie versöhnen - bislang jedoch mit mäßigem Erfolg
Unter den Blinden ist der Einäugige König, lautet ein bekanntes Sprichwort. Und es passt recht gut zu jenem Preis, mit dem Deutschland in der vergangenen Woche in Stockholm ausgezeichnet wurde. Die Naturschutzorganisation World Wildlife Fund (WWF) verlieh der Bundesrepublik den "Baltic Sea Leadership Award" für ihre Führungsrolle bei der Ausweisung von Schutzgebieten im Ostseeraum.
Zugleich erhielt Deutschland von allen Ostsee-Anrainern die besten Noten für seine Bemühungen für den Schutz des Meeres. Das klingt gut. Doch der Preis, der in diesem Jahr erstmals vergeben wurde, hat einen faden Beigeschmack. Deutschland sei zwar Klassenbester und ein Vorbild für die anderen Länder, lobte Lasse Gustavsson, Generalsekretär des WWF Schweden. Allerdings nur "Bester in einer Klasse von Nachhilfeschülern, schränkte er zugleich ein. Christiane Feucht vom WWF-Ostseebüro in Strahlsund drückte es ähnlich aus: Deutschland halte die "Poleposition in einem Schneckenrennen".
Auf den Plätzen zwei bis neun in Sachen Umweltschutz an der Ostsee folgen Dänemark, Litauen, Lettland, Polen, Schweden, Finnland, Estland und Russland. Um auf einem der vorderen Plätze der Rangliste zu gelangen, hatte die Organisation eigentlich nichts Unmögliches verlangt. Nach Angaben des WWF seien die Staaten lediglich nach jenen Zielen bewertet worden, die sie sich selbst in einer Vielzahl von Meeresschutzabkommen gesteckt hätten.
Die bestehenden internationalen Richtlinien und Schutzpläne seien ein Flickenteppich, fasste Gustavsson das Ergebnis zusammen. Und eingehalten würden sie auch nicht. In einem "Manifest für die Ostsee" fordert der WWF deshalb für alle Anrainer geltende und rechtlich verbindliche Vorgaben. Als dringlichste Ziele nennt die Organisation den Schutz der Ostsee vor den negativen Auswirkungen des zunehmenden Schiffsverkehrs, die Eindämmung der Überdüngung und der Überfischung.
Die Europäer gehen offensichtlich nicht all zu pfleglich mit ihrem Binnenmeer im Nordosten um. Dieser Befund gilt jedoch ebenso für das Mittelmeer, das Schwarze Meer und den Atlantik. Dabei hätten sie allen Grund dazu. Die Küsten der EU-Mitglieder bilden mit rund 68.000 Kilometern zwei Drittel der EU-Außengrenze. Ihre Küsten sind dreimal so lang wie die der USA und fast zweimal so lang wie die Russlands. Annähernd die Hälfte der rund 450 Millionen Menschen in der Europäischen Union lebt an oder nahe der Küstenlinie in weniger als 50 Kilometer Entfernung. Und die Meere spielen für die Europäer direkt und indirekt eine viel größere Bedeutung als viele von ihnen wahr haben wollen - ökolisch wie ökonomisch.
Beispiel Fischfang: Die Europäische Union ist der weltgrößte Markt für Fischereierzeugnisse. Rund 420.000 Menschen finden im Fischereisektor ihren Arbeitsplatz. Doch dieser wirtschaftliche Nutzen wird durch die Ausbeutung des Ökosystems Meer in erheblichem Maß gefährdet.
Das Europäische Parlament in Straßburg debattierte am 12. Juli über die zukünftige Meerespolitik und verabschiedete einen Entschließungsantrag, der diesen Umstand einmal mehr sehr deutlich formulierte. Ein Viertel der Meeresfischbestände seien derzeit akut bedroht, 52 Prozent der Bestände bereits derart überfischt, dass eine weitere Erhöhung der Fangquoten nicht mehr möglich sei; lediglich ein Prozent der Fischbestände erhole sich wieder langsam. Wissenschaftler warnten davor, dass der kommerzielle Fischfang bereits zur Mitte des Jahrhunderts zusammenbrechen könnte.
Beispiel Schifffahrt: Zwar gilt der Transport von Waren und Menschen auf dem Seeweg noch zu den vergleichweise umweltfreundlichen Transportmethoden, trotzdem bringt die Schifffahrt erhebliche Belastungen für die Umwelt mit sich. Auch für das Klima. In ihrem Entschließungsantrag weisen die Europaparlamentarier darauf hin, dass die durch die Schifffahrt verursachten klimaschädlichen C02-Emissionen wesentlich höher seien als bisher angenommen. Sie würden rund fünf Prozent der weltweiten Emissionen ausmachen. Es werde damit gerechnet, dass sie in den nächsten 15 bis 20 Jahren um 75 Prozent ansteigen werden, wenn dieser Trend anhält.
Die Europäer tragen zu diesem Trend entscheidend bei. Rund 90 Prozent des EU-Außenhandels und 40 Prozent ihres Binnenhandels wickeln sie auf dem Seeweg ab. Die Mitgliedstatten der Europäischen Union stellen 45 Prozent der Welthandelsflotte, in ihren rund 1.200 Seehäfen werden jährlich 3,7 Milliarden Tonnen Fracht umgeschlagen und 390 Millionen Passagiere abgefertigt.
Dass in Sachen Meerespolitik auf europäischer Ebene so einiges im Argen liegt, hatte die EU-Kommission in Brüssel bereits im vergangenen Jahr bemängelt. Eine gemeinsame Meerespolitik habe sich bislang nur marginal entwickelt. Um Abhilfe zu schaffen, legte Joe Borg, Kommissar für Fischerei und maritime Angelegenheiten, im Juni 2006 das "Grünbuch" mit dem viel versprechenden Titel "Die künftige Meerespolitik der Europäischen Union: eine Vision für Ozeane und Meere" vor. Im Wesentlichen geht es darum, die ökologischen Probleme der Meere mit ihren wirtschaftlichen Potenzialen in Einklang zu bringen. Bis Ende des Jahres sollen nun konkrete Ergebnisse erarbeitet werden, die dann dem Europäischen Rat für entsprechende Gesetzesinitiativen vorgelegt werden können.
Anfang Mai trafen sich im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft rund 500 Politiker und Experten in Bremen, um über die anvisierte integrierte EU-Meerespolitik zu diskutieren. Die Fülle der diskutierten Probleme machte noch einmal deutlich, wie breit gefächert das Thema ist - und wie schwierig es ist, Kompromisse zwischen allen Beteiligten zu finden. Es geht um Fischereipolitik, den Klimaschutz, die Wettbewerbsfähigkeit und die Sicherheit der Schifffahrt, die Lebensqualität in den Küstenregionen und die Förderung des Tourismus. "Wir sind Zeugen einer neuen Form der Zusammenarbeit schwärmte Kommissionspräsident José Manuel Barroso zum Auftakt der Konferenz. Ob und zu welchen Ergebnissen dies jedoch führen wird, bleibt abzuwarten.
Bundskanzlerin Angela Merkel fand zumindest auch mahnende Worte: Der Schutz der Meeres dürfe nicht nur im Sinne seines wirtschaftlichen Nutzen interpretiert werden. "Die Erhaltung der Meere ist auch ein Wert an sich. Er gebietet, gerade Meeren und Ozeanen ein Stück Ehrfurcht zu zeigen."