Jelzin gestorben
Er riskierte viel, führte sein Land in die Demokratie und gefährdete diese. Zuletzt geriet er in Vergessenheit.
Boris Jelzin ist zuletzt nicht mehr aktuell gewesen in Russland. Der Tod des 76-Jährigen am 23. April wurde in seiner Heimat - anders als in Deutschland, wo er wegen seiner Verdienste um die deutsche Einheit sehr geschätzt wurde - eher beiläufig bekannt; keine Programmunterbrechung, keine Sondersendung, die Abendnachrichten zeigten Putin beim Business as usual mit US-Verteidigungsminister Robert Gates, erst kurz vor Mitternacht hielt das russsische Staatsoberhaupt eine kurze Fernsehansprache.
Russlands erster Präsident scheint aus einer anderen Epoche zu stammen als sein Nachfolger. Jelzin war Vollblutpolitiker von geradezu barocker Wucht. Er gewann freie Wahlen, kletterte auf Panzer, erfreute das Publikum mit abenteuerlichen Jugenderinnerungen: So ist er kreuz und quer durch Russland getrampt, oft auf den Dächern von Eisenbahnwaggons. Dabei geriet er einmal an Gauner, spielte mit ihnen Karten. Er verlor alles, was er am Leib hatte, letzter Einsatz war das eigene Leben: Wenn er verliere, würde man ihn vom fahrenden Zug werfen. Der junge Jelzin gewann.
Auch wenn der Populist hier Wahrheit und Legende gemischt haben mag, Hasard blieb eine seiner Haupttriebkräfte. Wobei er oft auch verlor, seine wirtschaftliche Schocktherapie 2002 ruinierte Millionen seiner Mitbürger, 1993 riskierte er im Konflikt mit dem Parlament den Bürgerkrieg, die Dumawahlen danach endeten für seine demokratische Gefolgschaft katastrophal. Im Dezember 2004 schickte er überhastet Truppen zum Sturm auf Grosny, die Hauptstadt des widerspenstigen Tschetscheniens, eine militärische Pleite, die in ein jahrelanges Blutbad mündete.
Aber auch wenn der erklärte Demokrat auf der Demokratie herumtrampelte, seine Vorliebe für Unruhe und Konflikt ging mit einer für Sowjetmenschen sehr untypischen Duldsamkeit einher. So heftig die russische Presse Jelzin auch beschimpfte, ihre inzwischen fast erwürgte Freiheit war unter seiner Präsidentschaft garantiert.
Jelzin geht als kein Politiker mit glücklicher Hand in die Geschichte ein. Er wechselte seine Berater, aber auch seine Premierminister, wie ein schlechter Pokerspieler seine Karten: häufig und erratisch. Mal setzte er auf Jungliberale wie Jegor Gaidar oder Sergej Kirijenko, mal auf alt gediente Apparatschtschiki wie Wiktor Tschernomyrdin oder Jewgenij Primakow. Unter dem Einfluss pseudowestlicher Intriganten wie Boris Beresowskij fiel Jelzins letzte Wahl auf den Ex-KGBler Wladimir Putin. Noch einmal verblüffte Jelzin die Welt, indem er am Neujahr 2000 vorzeitig zugunsten seines "Thronfolgers" abdankte. Die Präsidentschaftswahlen drei Monate später degradierte er zur Formalität. Ein letzter großer Stich, aber für die junge russische Demokratie endete diese Partie mit gebrochenen Rückrat.