Tschetschenien
Ein Projekt der Europäischen Kommission hilft den Menschen, eine neue Existenz aufzubauen
Diese kurze Geschichte aus Tschetschenien hat ein Happy End. Das ist ungewöhnlich für dieses Land. Es geht um Tanzila, ein Mädchen aus Grosny, das gerade mal zehn Jahre alt ist, und ein Lamm, das dem Kind geholfen hat, den Lebensmut wiederzufinden. Tanzila wird als ältestes von insgesamt fünf Geschwistern im Stadtviertel von Zavodoskom geboren. Es ist ein bescheidenes Leben, das die Familie führt. Irgendwo zwischen Krieg und Frieden. Inmitten von Leben und Tod. Als der Konflikt um die Kaukasusrepublik 1999 erneut entfacht, ist Tanzila zwei Jahre alt. Ihre Mutter, die ungenannt bleiben möchte, erinnert sich noch genau. "Unser Haus geriet unter starken Beschuss. Erst schrie Tanzila, dann wurde sie still und weigerte sich auch nur einen Ton von sich zu geben. Gelächelt hat sie gar nicht mehr. Es war, als bliebe die Zeit für meine Tochter stehen", sagt die Mutter. Dieser Zustand ändert sich nicht. Auch im benachbarten Inguschetien, wohin die Familie flüchten muss, bleibt Tanzila stumm.
Jedes auch nur so kleine Geräusch lässt das Mädchen wie in Todesangst zusammenzucken. Es reißt die Augen weit auf. Das Herz in seiner Brust beginnt zu rasen. Tanzila verkrampft sich, erstarrt förmlich. Und sie fürchtet sich vor anderen Jungen und Mädchen, die toben, schreien und wild umherspielen. Sie ist einsam. Tanzila, daran besteht kein Zweifel, ist traumatisiert. Ihre Eltern sind verzweifelt. Therapeuten gibt es nicht. Weder im Flüchtlingslager an der Grenze zu Tschetschenien, noch daheim in Grosny, wohin die Familie schließlich wieder zieht, als sich die Lage vorerst beruhigt. Die Zeit, daran möchten alle glauben, wird hoffentlich Tanzilas Wunden heilen. Und die der Familie, die mit dem Mädchen leidet.
Was bleibt den Angehörigen auch sonst übrig. Viele andere Kinder sind ebenfalls zu Opfern geworden. Dessen ist sich die Mutter bewusst. Immerhin ist die Familie für Tanzila da. Bislang haben alle den Wahnsinn des Krieges überlebt. Das redet sie sich jeden Tag ein. Damit sie stark bleibt und nicht verzweifelt.
"Meine Tochter ist nicht dumm", sagt sie. "Sie hat einen klugen und wachen Geist. Es kam mir nur so vor, als ob sie sich in ihrem Innersten gegen alles verschloss, sie hatte sich einfach zugemacht. Das brach mir jeden Tat aufs Neue das Herz." Fast sieben Jahre vergehen. Dann geschieht etwas Unvorhergesehenes, das Tanzilas Leben verändern soll. Im Oktober 2006 starten die Dienststelle für humanitäre Hilfe der Europäischen Kommission, kurz ECHO, und das christliche Kinderhilfswerk World Vision ein neues Hilfsprojekt in Tschetschenien. Einhundert Familien werden mit Schafen versorgt - hauptsächlich, um Produkte wie Wolle und Fleisch auf dem Markt anzubieten. "Wir versuchen, die Menschen von der Abhängigkeit von außen zu befreien und gegen die Abwanderungswelle zu wirken", erklärt Mamar Merzouk die Ziele von ECHO. Das Budget des Hilfsdienstes für diese Region ist seit dem Aufflammen des zweiten Tschetschenienkrieges von 2,4 auf rund 26 Millionen Euro aufgestockt worden.
Auch Tanzilas Familie erhält zwei Schafe. Und es ist Tanzila, die sich um die Tiere kümmert. "Ohne dass wir sie da-rum bitten mussten, übernahm sie die Verantwortung für die Schafe. In nur wenigen Monaten veränderte sie sich. Erst wurde Tanzila ruhiger. Dann störten sie keine plötzlichen Geräusche mehr. Und als jetzt zu Ostern das erste Lamm geboren wurde, fand sie sogar ihr Lachen wieder", sagt die Mutter. Am schönsten aber ist es für sie, wenn sie ihre Tochter sprechen hört. Zwar stottert sie dabei noch ein wenig, aber Tag für Tag wird Tanzila bereits besser und sicherer. Auch im Umgang mit anderen Kindern, die Tanzila mittlerweile sogar bewundern, wenn sie im Garten hinter ihrem Haus mit ihrem Lamm über den Rasen tollt. "Es ist wirklich wie ein kleines Wunder", sagt ihre Mutter.