Der Medienpreis des Deutschen Bundestages kann Medizin gegen Vorurteile sein, weil er kritischen Journalismus fördert. Der kritische Journalismus aber unterscheidet. Unterscheidung ist das griechische Ursprungswort von Kritik. Kritische Journalisten sind der Wirklichkeit verpflichtet. Kritik kann deshalb Lob für Gelungenes und Tadel durch die Aufdeckung von Skandalen sein. Aber sie greift, wie es ein Vorurteil will, nicht nur das Negative auf.
Auch der diesjährige Medienpreis für die Rundfunkjournalistin Susanne Führer steht in der zehnjährigen Tradition eines noch jungen Preises. Susanne Führer hat in ihrer Reportage am 18. November 2001 im DeutschlandRadio Berlin - mit Claus Stephan Rehfeldt als Redakteur - diese Kunst der Unterscheidung hörbar gemacht. Ihr differenzierendes und nuanciertes Stück "Auf Vertrauen und Gewissen - die Vertrauensfrage des Kanzlers und das Gewissen des Abgeordneten Klaus Barthel" zeigt - am Beispiel der Entscheidung über einen möglichen Bundeswehreinsatz nach dem Terror vom 11. September 2001 - durch die Beobachtung von fünf Arbeitstagen jenes Abgeordneten die Spannung zwischen der Gewissensentscheidung jedes Abgeordneten nach Artikel 38 des Grundgesetzes und der Entscheidungsfähigkeit seiner Fraktion und damit der Regierungsfähigkeit des Bundeskanzlers. Barthel verlangt Klarheit; Partei und SPD-Fraktion erwarten Zustimmung.
Diese Reportage besticht durch "O-Töne", die den Rundfunk zu einer authentischen Darstellung der parlamentarischen Wirklichkeit besonders befähigen und durch Führers sensible Zwischentöne. Sie verzichtet auf das Klischee vom "Fraktionszwang" oder auf Reizworte, die im Grunde verfassungswidrig sind, wenn von "Abweichlern" oder "Hinterbänklern" gesprochen und geschrieben wird. Ihr Beitrag, aber auch jene der Preisträger in den Jahren zuvor, belegen, dass Parlamentarismus mehr als Machterwerb und -verteidigung ist. Und: dass eine realistische Parlamentsberichtserstattung deshalb nicht nur auf Bundesregierung, Partei- und Fraktionsspitzen achten sollte.
Die unabhängige Journalisten-Jury entscheidet im Konsens-Verfahren, aber nicht im Schmusekurs. Ihre Entscheidungen über den vom Bundestag unterdessen mit 10.000 Euro dotierten Preis waren nicht immer leicht, zumal auch andere Arbeiten als die ausgezeichneten das mögliche Niveau einer wirklichkeitsgetreuen Parlamentsberichterstattung erreichen und damit anderen Journalisten zeigen, was sie versäumen. So erhält die "Rheinische Post" mit ihrer Lokalausgabe Moers in diesem Jahr zwar nicht den Medienpreis, der diesmal nicht mehr unter mehreren Bewerbern geteilt wurde. Aber sie wird gelobt, wie sie mit einer Multimedia-CD die beiden Bundestagswahlkreise ihres Erscheinungsgebietes vorgestellt hatte. Das Jury-Mitglied Stephan-Andreas Casdorff würdigte diese Leistung: "Weil sie wirklich innovativ ist und die jungen Leute erreicht. Hinzu kommt, dass es keine der großen Redaktionen ist, die diese Idee hatte. Was zeigt: Guter Journalismus ist überall zu finden."
Das ist tatsächlich der Fall, denn der Medienpreis des Deutschen Bundestages ging nicht nur an große Namen aus großen Medien wie 1993 an Herbert Riehl-Heyse für seinen Beitrag in der "Süddeutschen Zeitung" "Man schlägt den Sack und kauft den Esel". Dieser leider im April 2003 verstorbene Journalist und Schriftsteller hatte stets die Kunst der differenzierenden Kritik beherrscht und mit seiner Arbeit vom 17./18. Oktober 1992 einen Maßstab für künftige Entscheidungen der Jury gesetzt. 1994 wurde der Preis zwischen Print- und elektronischen Medien geteilt: Klaus-Peter Schmid wurde für seinen Beitrag in der "Zeit": "Demokratie aus der Kiste" ausgewählt, Elmar Thevessen für seinen ZDF-Beitrag "Parlament der leeren Stühle". 1995 bekam Stefan Kuhn für seine Reportage über den parlamentarischen Alltag "Vom Schutz vor Piraten bis zu den Brötchen an der Tankstelle - Abgeordnete in Bonn" ("Frankfurter Rundschau") die Auszeichnung. Klaus Rommerskirchen erhielt im selben Jahr wegen seiner Live-Berichterstattung zur Kanzlerwahl die Auszeichnung. 1996 ging er an den Leiter der Parlamentsredaktion des "General Anzeigers", Ekkehard Kohrs, für die gesamte, von Sachkenntnis, Humor und Ironie geprägte Parlamentberichtserstattung eines Jahres. Stefan Haselberger bekam ihn für seinen Beitrag in der "Welt am Sonntag" "Der weibliche Störfaktor im sächsischen Landtag - die PDS-Abgeordnete Christine Ostrowski nervt", und Ludwig Domen für sein akustisches Porträt des Bundestages in WDR 5 "Die Sitzung ist eröffnet".
Um dem Preis mehr Gewicht zu geben, entschloss sich der Bundestag für eine längere Ausschreibungszeit. Deshalb wurde der Preis das nächste Mal erst 1999 an Helmut Lölhöffel (damals "Frankfurter Rundschau") für seine Berichterstattung über den Untersuchungsausschuss "Plutonium" vergeben. Zugleich wurde die Phoenix-Redaktion unter Würdigung ihrer gesamten Parlamentsberichterstattung (Journalistenjargon: "Ohne Phoenix is' nix.") für ihre Beiträge "Reichstagseröffnung" und "Historische Debatten" ausgezeichnet. 2001 bekam Christian Vogg wegen seines Beitrags in WDR 5 "Angekommen in der Berliner Republik? Zwei Hinterbänkler beobachtet zwischen Bundes- und Reichstag" die Auszeichnung. Er wäre nicht ausgezeichnet worden, wenn er im eigentlichen Sendetext von "Hinterbänklern" gesprochen hätte. Er widerlegte aber dieses Vorurteil und behauptete nicht, dass mit dem Umzug aus der Bundesrepublik eine "Berliner Republik" geworden sei. Steffen Mack erhielt den Preis für einen vergleichbar differenzierten Beitrag im "Mannheimer Morgen" "Lust und Frust unter der Glaskuppel. Abgeordnete müssen sehen, wo sie bleiben".
Der Menschenkenner Johann Nepomuk Nestroy hatte einmal listig den Sinn von Preisverleihungen vorweggenommen, indem er schrieb: "Darum preisen wir ihn laut, weil er uns sonst niederhaut." Das gilt natürlich nicht für diesen Preis. Im Gegenteil. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und seine Vorgängerin Rita Süssmuth sind bei der Verleihung stets gegen Gefälligkeits-Journalismus und für eine unabhängige Beobachtung eingetreten. Das Bundestagspräsidium will die Parlamentsberichterstattung insgesamt voranbringen, denn sie kommt zu kurz. Oft sind wir Journalisten in der Bundespressekonferenz als "Zusammenschluss deutscher Parlamentskorrespondenten" nur so genannte Parlamentskorrespondenten. Selten oder nie ist der Bundestag Gast und der Parlamentarismus Thema der Bundespressekonferenz, während die Regierungssprecher dreimal wöchentlich und die Parteien in schönster Regelmäßigkeit dort auftreten. Der journalistische Betrieb ist auf Events und Personalisierungen auf einen "Kreisverkehr künstlicher Neuigkeiten" (Lölhöffel) fixiert. Wiedervorlage und Beständigkeit fehlen. Hinzu kommen der Zwang zur Bebilderung und die Versuchung des Häppchenjournalismus, vor allem die in Bonn begonnenen und in Berlin gesteigerten Inszenierungen, wobei Parlamentarier selbst mit Talk-Shows, Runden Tischen, Kommissionen des Bundeskanzlers vom Parlament ablenken. Die Schwächen des Parlaments und die des Parlamentsjournalismus entsprechen und verstärken einander. Der Medienpreis will sich dem entgegenstellen.
Helmut Herles ist Vorsitzender der Jury des Medienpreises des Deutschen Bundestages.