Angesichts der Beschleunigung sozialen Wandels seit den 80er-Jahren durch Globalisierung, Europäisierung und vor allem durch den Zusammenbruch der Zweiten Welt des Sozialismus, die auf den steinigen Modernisierungspfad von Autoritarismus und Planwirtschaft zu Demokratie und Marktwirtschaft verwiesen wurde, ist die Ignoranz gegenüber diesem Konzept um so überraschender.
Peter Waldmann hat mit einer internationalen Forschergruppe diese Analysetradition wieder aufgegriffen und Diktatur wie Demokratisierung daraufhin untersucht, wie anomieanfällig sie sind. Anomie (vom griechischen "a-nomos", also Gesetzes- oder Regellosigkeit) tritt dann auf, wenn eine soziale Ordnung unter Druck gerät, an Legitimität verliert oder gar vollends zusammenbricht.
Waldmann definiert folgerichtig "anomische Situationen als solche Situationen (...), die durch einen Mangel an klaren, konsistenten, sozial akzeptierten und durchsetzbaren Regeln bzw. Normen gekennzeichnet sind". Anknüpfend an den Begriff der Normen, welche die "soziale Verkehrsordnung einer Gesellschaft" bilden, lassen sich anomische Tendenzen an der Schwächung des normativen Bewusstseins (innerer Aspekt), aber auch an ihrer schwindenden Sanktionskraft (äußerer Aspekt) wie an der babylonischen Sprachverwirrung selbst ablesen.
Dieser dritte und letzte Aspekt zeigt sich immer dann, wenn eine politische Ordnung so depraviert ist, dass ihre ideologischen Konzepte das Gegenteil dessen meinen, was sie verkünden, wie in Orwells "1984", wo aus Liebe Hass, Frieden Krieg wird. Schon bei Durkheim hat Anomie einen Doppelaspekt, wie sich an seiner berühmten Selbstmordtypologie ablesen lässt: Integration und Regulation. Egoismus und Altruismus umschreiben die Integrationsmodi einer individualistischen und kollektivistischen Gesellschaftsordung.
Anomie und Fatalismus hingegen markieren einen Zustand der Unterregulierung oder Abwesenheit von Normen sowie einen Zustand der Überreglementierung. Anomie umschreibt ganz allgemein eine soziale Situation oder Konstellation; wie die individuellen oder kollektiven Akteure indes darauf reagieren, hängt von einem Bündel weiterer Faktoren ab. Aber wie misst man Anomie? Waldmann schlägt direkte und primäre Indikatoren vor, die sich auf die normative Struktur der Gesellschaft oder Gruppe beziehen und indirekte oder sekundäre, die sich in Formen abweichenden Verhaltens äußern wie Alkohol- und Drogenkonsum, Kriminalität und Selbstmordhäufigkeit.
Mit diesem ausgearbeiteten Konzept untersuchen die Beiträge in dem Sammelband, der auf ein Symposion in Augsburg im Jahre 2000 zurückgeht, Diktaturen wie die Schah-Ära und das Castro-Regime in Kuba, das Ende autoritärer Regime wie Spanien nach 1975 und die Ablösung des Pinochet-Regimes in Chile, der Wandel totalitärer Regime wie in China, Polen und Ungarn und schließlich den Wechsel von Diktatur zu Demokratie nach der NS-Diktatur und nach der DDR-Diktatur. Eingerahmt werden diese Fallstudien durch theoretische Perspektiven und eine Art resümierendes Zwischenfazit.
Um das Ergebnis vorweg zu nehmen: Die Arbeit mit dem Anomie-Konzept lohnt sich, vor allem, wenn man der anspruchsvollen Konzeptualisierung von Peter Waldmann und Helmut Thome folgt. Leider vermögen nicht alle Beiträge dieses theoretische Niveau zu erzielen, sondern bleiben in Beschreibungen und Länderberichten stecken, die aber als solche lesenswert sind.
Der Stellenwert von Anomie ist durchaus unterschiedlich in Diktatur und Demokratie. "Etwas zugespitzt lassen sich Diktaturen als weitgehend integrierte Herrschaftssysteme charakterisieren, deren Stabilität unter einem gewissen Maß an Regellosigkeit nicht leidet, sondern im Gegenteil noch zusätzlich gefördert wird, während liberal-kapitalistische Demokratien stärker von desintegrativen Tendenzen geprägt sind, weshalb in ihnen einem verlässlichen normativen Regelwerk eine Schlüsselfunktion als Stabilitätsgarant sowie als Integrationsersatz zufällt".
Wie Hans-Jürgen Frieß am Beispiel Kubas deutlich macht, kann neben dem sozialistischen Regime durchaus ein halb geduldeter, halb verbotener kapitalistischer Schwarzmarkt existieren, der die basale Versorgung sicherstellt und gleichzeitig angesichts der gesellschaftlichen Doppelmoral jederzeit die willkürliche politische Intervention gegenüber missliebigen Untertanen erlaubt.
Beim Übergang von einer Ordnung zur anderen hängt das Anomieniveau entscheidend davon ab, unter welchen Voraussetzungen (Kriegsniederlage, Revolution oder friedlicher Übergang) er vonstatten geht, wie lang die Übergangskrise dauert beziehungsweise wie schnell der Ordnungsaufbau gelingt und ob auf ein rechtsstaatliches Erbe zurückgegriffen werden kann. Deutschland nach 1945 geriet im harten Winter 1946/47 in eine tief greifende Armuts- und Anomiesituation, wie Michael Schoirer an den Indikatoren wie Kriminalitäts- und Scheidungsraten zeigen kann. Aber mit dem Wandel der äußeren Konstellation, Stichwort: Kalter Krieg und Marshall-Plan, und den inneren Voraussetzungen, Stichwort: rechtsstaatliche Tradition, gelang es ab 1952 mit dem Wirtschaftswunder, aus den Westdeutschen auf lange Sicht gute Demokraten zu machen.
Waldmanns Band ist ein Zwischenfazit dieser Forschungsrichtung, um so gespannter darf man auf den Abschluss dieses internationalen Projekts sein. Dieser Band dürfte alle interessieren, die über Diktatur und Demokratie wie über Transformation und sozialen Wandel arbeiten. Anomie ist kein anomisches Konzept, sondern ein brauchbares Untersuchungsinstrument, um wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandel besser zu verstehen und zu erklären.
Peter Waldmann (Hrsg.)
Diktatur, Demokratisierung und soziale Anomie.
Verlag Ernst Vögel, München 2003; 423 S., 56,- Euro