Man nehme ein aktuelles gesellschaftspolitisches Thema, lote dazu die vorherrschende Meinung aus, stelle dem mainstream eine diametral konträre These gegenüber und versuche, diese mit vielen Fakten zu belegen. Noch ein reißender Titel und zumindest eine passable Buchauflage dürften gesichert sein.
Nach diesem Rezept geht Mindt vor. Seine Hauptthese ist, dass es den Menschen im Osten nicht schlechter geht als denen im Westen und es deshalb keiner speziellen finanziellen Förderung für die neuen Länder mehr bedarf. Diese These wird dann konzentriert auf die Bereiche Arbeitslosigkeit und Beschäftigung, Kinderbetreuung und Bildungswesen. Wissenschaftsausstattung, Verkehrsinfrastruktur, Städtebau, Einkommen und Verbrauch der privaten Haushalte, Gesundheitswesen, Bergbaufolgelandschaften, Sport- und Kulturförderung.
Das Strickmuster, wie die einzelnen Gebiete abgehandelt werden, ist immer das Gleiche: Es werden jeweils Indizien zusammengetragen, die den Gleichstand, in einigen Fällen gar die Besserstellung des Ostens beweisen sollen. Als Belege werden entweder gesamtwirtschaftliche (Einzel-)fakten oder Beispiele nach der Methode pars pro toto angeführt.
Dabei werden auch durchaus zutreffende Ergebnisse präsentiert, die zur Stützung der Thesen geeignet scheinen; so etwa, dass die Erwerbstätigenquote in Ost und West fast gleich hoch ist, ebenso wie das um Kaufkraftunterschiede bereinigte Haushaltsnettoeinkommen. Richtig sind auch die Angaben über die vergleichsweise gute personelle Ausstattung in Kinderbetreuungseinrichtungen und im Hochschulbereich.
Problematisch an der Beweisführung, und dies zieht sich durch das ganze Buch, ist die einseitige Auswahl der Fakten: Alles was zur Untermauerung der Gleichstellungsthesen dienen kann, wird aufgeführt, nicht ins Bild passende Sachverhalte werden weggelassen.
Für dieses Vorgehen lassen sich (fast) beliebig viele Beispiele anführen. Als Belege für die Verschwendung von öffentlichen Mitteln im Osten werden die Berichte des Bundes der Steuerzahler und der Rechnungshöfe herangezogen. Ganz davon abgesehen, dass die für Berlin genannten Fälle ausnahmslos das frühere Westberlin betreffen, listen auch die Berichte der westdeutschen Landesrechnungshöfe für ihr Gebiet ähnliche Missstände auf; es handelt sich um ein gesamtdeutsche Problem und keines speziell des Ostens.
Bei der Verkehrsinfrastruktur wird auf die gute Ausstattung mit Autobahnen und Fernstraßen abgestellt; es fehlt jeglicher Hinweis auf den Zustand der innerörtlichen Verkehrswege. Häufig beginnen gleich nach dem Ortsschild immer noch "Knüppeldämme". Ein ähnlich schiefes Bild wird von den mit öffentlichen Geldern herausgeputzten Städten und Gemeinden östlich der Elbe gezeichnet; die Tristesse und der marode Zustand vieler Viertel außerhalb der Stadtkerne findet keine Erwähnung.
Wichtiges Indiz für die Qualität der gesundheitlichen Versorgung ist die Lebenserwartung; sie unterscheidet sich nach wie vor deutlich in Ost und West. Das widerspricht der These von der Gleichwertigkeit des Gesundheitswesens in beiden Landesteilen. Dieser Tatbestand bleibt im Buch unbeachtet.
Beim Vergleich der personellen Besetzung des öffentlichen Dienstes wird versäumt, Unterschiede in der Abgrenzung aufzuzeigen; im Osten werden vielfach Aufgaben von der öffentlichen Hand wahrgenommen (zum Beispiel Kinderbetreuung), die im Westen häufig anderen Einrichtungen obliegen (freie Träger, Kirchen). Die Ausführungen über das Niveau des Lebensstandards lässt den Indikator Vermögensverteilung unberücksichtigt; er unterscheidet sich in Ost und West gravierend.
Einen Gleichstand auf dem Arbeitsmarkt aufgrund der nahezu übereinstimmenden Erwerbstätigenquote und der im Osten (zu) hohen Nachfrage nach Arbeit von Frauen zu konstatieren, greift viel zu kurz. Die Erwerbsneigung der Frauen in den neuen Ländern ist auch nach der Wende hoch geblieben, was im übrigen die Behauptung widerlegt, dass die Frauen in der DDR zur Arbeit gezwungen wurden (so die damalige Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen). Dies als eine Art "abweichendes Verhalten" zu charakterisieren ist haarsträubend.
Zu der Behauptung, dass sich "...die östlichen Länder zunehmend als regelrechte Industrie- und Wirtschaftsmagnete" mausern, sei gesagt, dass der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an der Wertschöpfung im Osten erst halb so hoch ist wie der im Westen.
Besser geeignet als Einzelbeispiele und -fakten zur Beurteilung des Entwicklungsstandes im Ost-West-Vergleich sind aggregierte gesamtwirtschaftliche Größen. Mindt zitiert unter anderem als Quelle das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW); er bedient sich aber nicht der dort ermittelten Gesamtdaten; sie würden seine Argumentationskette im Wesentlichen widerlegen. Danach besteht voraussichtlich auch im Jahr 2005 bei der Infrastrukturausstattung der Länder und Gemeinden (ohne Bund) über alle Bereiche im Osten noch ein Rückstand bezogen auf die Einwohnerzahl von gut 30 Prozent gegenüber dem Westen, darunter bei Straßen von 40, Schulen und Hochschulen 30, Sport und Erholung 10 Prozent. Eine bessere Ausstattung ist dagegen im Kulturbereich (+55 Prozent) und bei der Sozialen Sicherung (+15 Prozent) zu verzeichnen.
"Das vorliegende Buch möchte keine Missgunst säen". Aber genau das tut es, einmal durch die einseitige Faktendarstellung, zum anderen durch das dort gezeichnete Bild des unselbstständigen, nörgelnden und immer weiter Forderungen stellenden "Ossis", der die Wohltaten des Westens wie selbstverständlich in Anspruch nimmt, aber nicht Pflichten für die Gesellschaft erfüllen will.
Im übrigen ist ein stärker differenzierendes Vorgehen, was der Autor fordert, von der Politik längst eingeleitet worden. Der Ostbeauftragte in der Bundesregierung, Minister Stolpe, hat mehrfach angekündigt, dass in der neuen Förderperiode staatliche Leistungen ausschließlich nach Bedarf der Regionen vergeben werden sollen und nicht mehr nach ihrer geografischen Lage. Notleidende Regionen im Westen werden also künftig genauso behandelt wie solche im Osten.
Felix R. Mindt
Die Soli Abzocke.
Die Wahrheit über den armen Osten.
Eichborn Verlag,Frankfurt/M. 2003; 160 S., 14,90 Euro