Schulsenator Klaus Böger (SPD) ist stolz auf das neue, rund 100 Seiten dicke Schulgesetz des Landes Berlin. Aus seiner Sicht ist es eines der modernsten in Deutschland. Immerhin dauerte es über fünf Jahre, bis das Gesetz endlich das Abgeordnetenhaus mit der Mehrheit der rot-roten Koalition passiert hat. Im Nachhinein ist dies nicht einmal von Nachteil, denn so konnten auch Anregungen aus der für Deutschland so vernichtenden PISA-Studie aufgenommen werden.
Freilich konnte sich der Schulsenator auch diesmal weder in der eigenen Partei noch beim Koalitionspartner in Sachen Religionsunterricht durchsetzen. Es bleibt beim freiwilligen Religions- oder Lebenskundeunterricht nach der sogenannten Bremer Klausel des Grundgesetzes.
Dafür ändert sich viel für die über 850 Berliner Schulen, die mehr Selbständigkeit erhalten und eigene Profile entwickeln sollen. Die knapp 450.000 Schülerinnen und Schüler erhalten zusammen mit ihren Eltern in der Schulkonferenz mehr Mitbestimmungsrechte: So können die Schulen künftig über einen Teil des ihnen zur Verfügung stehenden Geldes selbst verfügen. Auch bei der Auswahl der Lehrer haben sie ein Mitbestimmungsrecht. Die Schulkonferenz kann bei der Wahl des Schulleiters mitreden.
Zwar bleibt es auch in Zukunft bei der sechsjährigen Grundschule, aber gerade für diese Schulstufe ändert sich besonders viel: So beginnt ab dem Schuljahr 2004/2005 in Berlin die Schulpflicht praktisch mit fünfeinhalb Jahren. Die ersten beiden Klassen werden zu einer "Schuleingangsphase" zusammengefasst, die für leistungsschwache Schüler auch drei Jahre dauern kann.
Rückstellungen wegen mangelnder Schulreife wird es künftig nicht mehr geben. Die bislang üblichen Vorklassen werden abgeschafft. Doch wer bei der Einschulung Probleme mit der Sprache aufweist (das gilt vor allem für Kinder ausländischer Abstammung), erhält zusätzlichen Unterricht in Deutsch. Ab 2005 müssen alle Grundschulen dafür sorgen, dass die Schülerinnen und Schüler täglich bis 13.30 Uhr betreut werden. Die Zahl der Grundschulen mit Ganztagsbetreuung soll ausgeweitet werden.
Nach der sechsjährigen Grundschule folgt die Differenzierung in Haupt-und Realschule sowie Gymnasium. Ursprünglich war geplant, Haupt- und Realschule zusammenzulegen. Entsprechende Modellversuche hatten jetzt zur Folge, dass sich Haupt- und Realschulen freiwillig zu einem Verbund zusammenschließen können. Wer bislang ein Zeugnis der 10. Klasse mit Versetzungsvermerk hatte, verfügte damit automatisch über den Realschulabschluss. Das ändert sich; künftig müssen zum Versetzungszeugnis zusätzliche Prüfungen in Deutsch, Mathematik und in einer Fremdsprache abgelegt werden.
Schüler, die die 10. Klasse ohne Ausbildungsvertrag verlassen, müssen künftig nicht mehr einen einjährigen Vollzeitlehrgang zu besuchen. Sie können jedoch auf freiwilliger Basis eine solche Klasse besuchen, die von den Berufsschulen bereitgehalten werden müssen. Ferner wird es an zahlreichen Oberstufenzentren eine Berufsoberschule geben, die Erwachsenen mit einem mittleren Schulabschluss und einer mehrjährigen Berufsausbildung offen steht. In diesen Schulen können sie nach zwei Jahren die fachgebundene Hochschulreife erwerben, unter besonderen Bedingungen sogar die allgemeine Hochschulreife. Nicht zuletzt in Bayern hat sich diese Berufsoberschule sehr bewährt.
Eingeführt wird in Berlin künftig ein Zentralabitur, das bereits nach zwölf Schuljahren erreicht wird - mit Ausnahmen an Gesamtschulen, wo die Wahl zwischen zwölf oder wie bislang 13 Jahren besteht. Damit dieses Berliner Abitur bundesweit anerkannt wird, muss die Stundenzahl ab der 5. Klasse und später ab der 7. Klasse im Gymnasium angehoben werden. Das führt zu erneutem Samstagsunterricht oder aber zu vermehrtem Unterricht am Nachmittag.
Der Grund: Laut Kultusministerkonferenz müssen die Schüler in den Ländern mit Abitur nach zwölf Schuljahren genauso viele Wochenstunden Unterricht absolvieren wie die nach dreizehn Jahren. Das wiederum hat zur Folge, dass das Kurzzeit-Abitur erst für die Schülerinnen und Schüler in Frage kommt, die gegenwärtig die vierte Klasse besuchen.
Zu den Männern im Hintergrund des neuen Schulgesetzes gehört der von Frankfurt am Main "ausgeliehene", an der Spree aber längst heimisch gewordene Bildungsexperte Tom Stryck. Er hat den Glauben an das Schulgesetz nie verloren, auch wenn er in den vergangenen Jahren wegen der sich ändernden politischen Mehrheitsverhältnisse immer wieder Kompromisse eingehen musste.
Kritiker der Opposition bemängeln am neuen Gesetz zu unklare Bestimmungen etwa über die Bildungsziele sowie über die mangelnde Ausstattung der Schulen mit den notwendigen Finanzen. Ohnehin bleiben zahlreiche Streitpunkte, etwa die abgesenkten Zuschüsse für Privatschulen (vor allem solche in kirchlicher Trägerschaft genießen bei den Eltern hohes Ansehen) sowie die ungeklärte Frage eines Religions- oder Werteunterrichts.
Weil sich die rot-rote Koalition nicht auf einen ordentlichen Religionsunterricht wie in den meisten Bundesländern einigen konnte, beließ man es bei der bisherigen Regelung: Religionsunterricht wird von den Kirchen, Lebenskunde vom Humanistischen Verband Deutschland am Rande der Unterrichtstafel auf freiwilliger Basis erteilt.
Allerdings müssen künftig die Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie der Humanistische Verband strengere Bedingungen erfüllen, wobei die jetzigen Lehrkräfte im Rahmen des Bestandsschutzes nicht betroffen sind. Von den Lehrern für Religion oder Lebenskunde wird künftig die Befähigung für ein Lehramt und eine Prüfung im Fach Religionslehrer oder ein fachwissenschaftliches Studium an einer Hochschule beziehungsweise eine vergleichbare Ausbildung verlangt.
Ferner heißt es im neuen Schulgesetz: "Als Träger von Religionsunterricht kommen nur solche Vereinigungen in Betracht, die die Gewähr der Rechtstreue und der Dauerhaftigkeit bieten und deren Bestrebungen und Tätigkeitenauf die umfassende Pflege eines religiösen Bekenntnisses ausgerichtet und deren Mitglieder auf dieses Bekenntnis verpflichtet und durch es verbunden sind."
Erteilt wird dieser freiwillige Unterricht an Berliner Schulen - gegen Kostenbeteiligung durch das Land Berlin - von der evangelischen und der katholischen Kirche, der Islamischen Föderation Berlin (nach eigenen Angaben an 28 Grundschulen), der jüdischen Gemeinde, dem Kulturzentrum Anatolischer Alewiten sowie der Buddhistischen Gesellschaft. Dazu kommt der Lebenskundeunterricht des Humanistischen Verbandes Deutschland, der in Berlin über eine lange Tradition verfügt, die bis weit in die Weimarer Republik zurückreicht.