Ist es möglich, über den 37. Präsidenten der USA zu schreiben, ohne den Begriff Watergate, die Mutter aller politischen Skandale, zu erwähnen? Es ist schwer, aber vielleicht funktioniert es. Richard Milhous Nixon liebte große Auftritte. Schon aus diesem Grund überraschte es nicht, dass der Präsident gerade einen Monat nach Beginn seiner Amtszeit 1969 zu einer Antrittsreise bei den westlichen Verbündeten aufbrach: Brüssel, London, Bonn, Berlin, Rom und Paris - in knapp einer Woche.
Doch die Tour durch Europa sollte mehr sein als eine prachtvolle Vorstellungsrunde: Der neue Präsident der Vereinigten Staaten stand innen- wie außenpolitisch vor einer ganzen Reihe kniffliger Aufgaben. Nixons größte Herausforderung lautete Vietnam, oder besser die Frage, wie die USA aus diesem Krieg einigermaßen heil herauskämen. Kurz vor seinem Amtsbeginn hatte die amerikanische Truppenpräsenz in dem asiatischen Land mit einer halben Million Soldaten einen neuen Höhepunkt erreicht, jede Woche starben im Schnitt 100 von ihnen. Der innenpolitische Druck auf den Präsidenten war gewaltig, konkrete Pläne, wie er sein Land aus dieser sich zum amerikanischen Trauma entwickelnden Tragödie herausführen sollte, fehlten Nixon. Zusätzlich hatten Rassenunruhen und die Attentate auf Robert Kennedy und Martin Luther King das gesellschaftliche Klima angeheizt.
Auch außenpolitisch war die Situation kritisch: Die Spannungen zwischen der Sowjetunion und China verschärften sich, die Lage östlich und westlich des Eisernen Vorhangs blieb nach dem Ende des Prager Frühlings gespannt, die Nato war nach dem militärischen Rückzug Frankreichs aus dem Bündnis geschwächt. An Gesprächsstoff mangelte es also nicht.
Vor dem Nato-Rat in Brüssel trug Richard Nixon am 23. Februar ein neues Konzept der transatlantischen Partnerschaft vor; in London betonte er mehrmals nachdrücklich die Gemeinschaft der beiden Staaten, die einmalig sei. Am 26. Februar 1969 traf der 56-Jährige in Bonn ein. Über den Inhalt der Unterredung mit Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) ist wenig bekannt; sie drehte sich teilweise um Verhandlungen zwischen den beiden Supermächten USA und UdSSR.
Überraschend und abweichend vom vorher festgelegten Programm unterbrach Nixon die Gespräche und besuchte eine Plenarsitzung des Deutschen Bundestages - hier zeigte sich wieder sein Faible für große Auftritte. Denn natürlich unterbrach das Parlament seine laufende Sitzung - debattiert wurde die Landwirtschaftspolitik - und überließ dem "Chef der größten westlichen Macht unter dem Begrüßungsjubel des ganzen Hauses" das Rednerpult, wie diese Zeitung festhielt. (Damit habe er - so schrieb "Das Parlament" weiter - einer Institution seine Referenz erwiesen, "der vom eigenen Volke häufig die gebührende Achtung versagt wird").
Richard Nixon verwies in seiner knappen Ansprache auf die "Prinzipien und Ideale, die uns auch in Zukunft verbinden werden". Konkret nannte er die Nato, wirtschaftliche Faktoren, das "gemeinsame Bekenntnis zum Frieden für die gesamte Menschheit" und die Demokratie. Für ihn war die Rede vor dem Bundestag eine Premiere: "Wenn ich heute vor Ihnen stehe, so ist es das erste Mal, dass ich als Präsident der Vereinigten Staaten vor irgendeinem Parlament der Welt erscheine." Mit "langanhaltendem, lebhaften Beifall" verabschiedeten die Abgeordneten laut Protokoll den US-Präsidenten.
Am folgenden Tag besuchte er Berlin. Auch wenn der Präsident die US-amerikanischen Garantien für die Sicherheit der Stadt mehrfach bekräftigte - "ich sage Ihnen hier und jetzt, Berlin muss frei bleiben", erklärte er vor 6.000 Mitarbeitern der Siemens-Werke - und sich im offenen Wagen durch die eingeschlossene Stadt fahren ließ, dauerte sein Besuch nur knappe dreieinhalb Stunden. Nixon wollte keine Vergleiche mit einem seiner Vorgänger, John F. Kennedy, heraufbeschwören. Jener hatte sechs Jahre zuvor als Reaktion auf seinen triumphalen Empfang in der Stadt mit den Worten "Ich bin ein Berliner" Geschichte geschrieben. Für Nixon war Berlin deshalb die Stadt Kennedys - jenem Mann, gegen den er 1960 deprimierend knapp die Präsidentschaftswahl verloren hatte, was nahezu das Ende seiner politischen Karriere bedeutet hätte.
Diesen Schlusspunkt zu setzen, übernahm Nixon, der als krankhaft misstrauisch galt, lieber selbst. Nachdem erstmals gegen einen amtierenen Präsidenten ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet worden war, trat er 1974 zurück. Der Grund war jener Skandal, mit den Nixon in die Geschichte eingegangen ist; seine durchaus erfolgreiche Außenpolitik ist fast vergessen. Ohne Watergate kann man eben doch nicht über den 37. Präsidenten der USA schreiben.