Über die Gesundheitsreform war in letzter Zeit viel zu hören, doch das war neu: Da lobte jemand die Anstrengungen um Veränderungen, und alle im Saal spitzten die Ohren. Mit einem beeindruckenden Konsens der politischen Entscheidungsträger sei das Reformpaket zustandegekommen, staunte ein französischer Sozialpolitiker in einer gemeinsamen Sitzung mit dem Gesundheitsausschuss des Bundestages. Frankreich stecke mitten in einer aufreibenden Debatte über unumgängliche Veränderungen im Gesundheitswesen, die die Deutschen schon auf den Weg gebracht hätten. Schließlich laufen beide Länder angesichts des vielbeschworenen demografischen Wandels und seit Jahrzehnten in der Krise steckender Arbeitsmärkte Gefahr, so die einträchtige Meinung der Gesundheitspolitiker, die Sozialversicherungssysteme an die Wand zu fahren.
Für die meisten Parlamentarier, ganz gleich welcher Couleur, waren diese Worte höchstwahrscheinlich Balsam für die geschundene Seele. Trifft sie doch seit Wochen Volkes Zorn, entzündet an der vielbeschworenen Praxisgebühr in Höhe von 10 Euro. Dabei haben Rot-Grün und Union im Vermittlungsausschuss das umgesetzt, was die große Mehrheit der Deutschen seit langem verlangt und erwartet, nämlich Reformen. Glaubt man Umfragen, stellen sich die Bundesbürger trotz des gegenwärtigen Stimmungstiefs sogar auf weitere umfassende Veränderungen ein. Dementsprechend machen Konzepte über eine Bürgerversicherung, die Selbstständige und Beamte einschließt, die Runde. Anderorts wird über so genannte Kopfpauschalen nachgedacht, um das Gesundheitswesen zu sanieren. Auch Sozialministerin Schmidt hat schon auf weitere unausweichliche Reformschritte hingewiesen.
Abgesehen von den mitunter schmerzhaften Einschnitten, woher kommt vor diesem Hintergrund die derzeit schlechte Stimmung und die Verärgerung, die die Gesundheitsreform auslöst? Haben viel zitierte "handwerkliche Fehler" das Gesamtwerk in Verruch gebracht? Gehen die Einschnitte einseitig zu Lasten der Rentner oder der sozial Schwachen?
Die schiere Menge an neuen und häufig unklaren Regelungen und Fußangeln macht es dem Bürger sicherlich nicht leicht, sich mit der parteiübergreifenden Reform anzufreunden und die Notwendigkeit anzuerkennen. Fast täglich erscheinen neue Pressemeldungen und Berichte über Veränderungen und soziale Härten, die die Gesundheitsreform gebracht hat. Diese widersprechen sich nicht selten. Da geht es beispielsweise um die Definition von chronischen Krankheiten und die neu eingeführte Patientenquittung. Die Frage, ob ein Patient chronisch krank ist oder nicht, hat Konsequenzen für den Umfang seiner Eigenbeteiligung. Während chronisch Kranke im Laufe eines Jahres bis zu ein Prozent des Brutto-Haushaltseinkommens beisteuern müssen, kann der Rest sogar mit maximal zwei Prozent zur Kasse gebeten werden. Die Patientenquittung sorgt für Aufregung, da Berichten zufolge Ärzte versuchen, deren Einführung zur eigenen Bereicherung zu nutzen. Dies geschieht, indem die Mediziner Kassenpatienten nach den Tarifen der Privatversicherungen abrechnen und die Versicherten auf den Kosten sitzenbleiben. Komplexe Themen wie diese haben teilweise enorme Auswirkungen auf die Zuzahlungen der Versicherten, so dass die Öffentlichkeit die Neuerungen mit Argusaugen verfolgt. Vieles erscheint im Fluss und nicht abschließend geregelt.
Ein weiteres Beispiel: Gesundheitsministerin Ulla Schmidt hat auf den gesetzlichen Spielraum der Kassen hingewiesen, Hausarztmodelle anzubieten. Das heißt, wer zuerst den Hausarzt aufsucht, soll die Praxisgebühr erlassen bekommen. Auf Anfrage erklären die Kassenvertreter dazu, die Gesundheitsreform habe eine Vielzahl an Veränderungen gebracht, auf die sich die Versicherungen erst einstellen müssten. Dazu gehöre das Hausarztmodell, das derzeit vorbereitet werde.
Zu den weiteren, folgenreichen Veränderungen im Zuge der Gesundheitsreform gehören die Zulassung des Versandhandels für Arzneimittel, die Privatisierung des Zahnersatzes und Änderungen bei der Erstattung von rezeptfreien Arzneimitteln, um nur einige zu nennen. Als Resultat halten viele Arzt- und Apothekenbesuche Überraschungen parat, gegen die keiner gefeit ist.
Neben der großen Breite der Änderungen auf allen Gebieten des Gesundheitswesens kommt auch die Tiefe der Einschnitte zum Tragen. Es spricht für die Ausgewogenheit der Reformbemühungen, dass praktisch alle Bevölkerungsteile über zusätzliche Belastungen klagen. Und in der Tat werden weder Sozialhilfeempfänger, noch Abgeordnete und Beamte, noch Rentner ausgespart. Sicherlich treffen die Zuzahlungen für Arzneimittel die Arbeitslosen und Sozialempfänger besonders schwer. So müssen sie im ungünstigen Fall erstmal eine verhältnismäßig große Summe beim Apotheker aufbringen, bevor sie von ihrer Kasse von weiteren Zuzahlungen befreit werden. Auch die Rentner erwischt es gleich mehrfach, müssen sie doch dieses Jahr eine Nullrunde bei der turnusmäßigen Anpassung hinnehmen, den vollen Beitrag zur Pflegeversicherung zahlen und den doppelten Beitrag zur Kranken- und Pflegeversicherung bei Betriebsrenten hinnehmen. Dies wird an den Pensionären nicht spurlos vorübergehen, auch wenn sie im Durchschnitt nach wie vor finanziell besser gestellt sind als Familien.
Da viele Menschen die Neuerungen nicht gerade aus der Portokasse bezahlen können, fällt es schwer, die Reformschritte zu akzeptieren. Die Politik hat also einen hohen Erklärungsbedarf.
Dieses Vermittlungsbedürfnis wird derzeit nur unzureichend gestillt, da die Beschwerden über die Härten der Gesundheitsreform weiterhin die politische Agenda bestimmen. Von allen Ecken und Enden des politischen Spektrums vernimmt der Bürger den Ruf nach Anpassungen, also nach einer Reform der Reform. Dabei sehen mitunter die gleichen Entscheidungsträger Veränderungsbedarf, die wenige Wochen zuvor noch dem Kompromiss zugestimmt haben. Dazu gehören unter anderem der SPD-Vorsitzende Nordrhein-Westfalens, Harald Schartau, und CSU-Landesgruppenchef Michael Glos.
Zu diesen politischen Überlegungen kommt hinzu, dass sich die Beteiligten gegenseitig verantwortlich machen für Fehler im Vollzug des Gesetzes. So will der Verhandlungsführer der Union, Horst Seehofer, nicht länger den Kopf hinhalten für Umsetzungsfehler, für die die Regierung verantwortlich sei. Diese wiederum beschwert sich, dass ihr die ganze Schuld in die Schuhe geschoben wird und zeigt mit dem Finger auf die Selbstverwaltung. Das Gremium, bestehend aus Vertretern der Kassen und der Ärzteschaft, setze die parlamentarischen Beschlüsse nur unzureichend und nicht rechtzeitig um. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt hat bereits damit gedroht, die Selbstverwaltung aufzulösen. Ob der Regierungsapparat allerdings dazu in der Lage wäre, Detailfragen besser zu lösen als die Praktiker des Gesundheitswesens, sei dahingestellt.
Der vielfache Ruf nach Nachbesserungen und die gegenseitigen Schuldzuweisungen fördern sicherlich nicht das Verständnis für die Reformschritte. Das Gleiche gilt für unerfüllte Hoffnungen bei den Beitragssätzen. Die Politik hatte vollmundig eine Senkung des durchschnittlichen Beitragssatzes für die gesetzlichen Kassen von 14,3 Prozent auf 13,6 Prozent angekündigt. Bisher hat sich in dieser Frage wenig bewegt; die Kassen verweisen sogar darauf, dass die Beiträge dank der Reform gerade mal stabil bleiben. Ohne die Einschnitte hätten die Versicherungen zusätzliche 0,5 Prozent vom Einkommen der Arbeitnehmer verlangen müssen, heißt es sogar. Für die politischen Entscheidungsträger ist es in Sachen Vermittlung der Reformschritte praktisch der Casus Belli, wenn sie keine Beitragssenkungen auf der Habenseite aufweisen kann. Eine Stagnation der Beiträge macht sich schließlich nicht auf dem Lohnzettel bemerkbar.
Gibt es angesichts dieser Umstände wenig Hoffnung, dass die Menschen ihren Frieden finden mit der Gesundheitsreform? Trotz der momentanen Frustration und Unsicherheit gibt es Licht am Ende des Tunnels. Das Reformpaket brachte mehrere Neuerungen, deren positive Wirkungen der Versicherte wahrscheinlich erst im Laufe der Zeit spüren wird. So erlassen Internet-Apotheken beispielsweise die Hälfte der Zuzahlungsgebühr für Arzneimittel. Auch das bereits erwähnte Hausarztmodell könnte den Zorn über die Praxisgebühr besänftigen. In Sachen Beitragssatz könnte es doch noch zu einem guten Ende kommen, wenn die Kassen, die momentan die finanziellen Auswirkungen der Reform abwarten, sich doch noch zu Beitragsenkungen durchringen.
Der Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hält es für möglich, dass die anvisierte Senkung noch in diesem Jahr erreicht werden kann. Dafür sprechen in der Tat mehrere Indizien. So ist die Zahl der Arztbesuche im vergangenen Monat im Vergleich zum Januar 2003 um rund zehn Prozent zurückgegangen. Bei den rezeptfreien Arzneimitteln, bei denen wegen der Beseitigung des Preismonopols ohnehin Einsparungen zu erwarten sind, gab es einen Umsatzeinbruch. Auch könnte die Patientenquittung, die bisher kaum bekannt ist und praktisch nicht in Anspruch genommen wird, zur Kontrolle der Arztkosten beitragen.
Unter Berücksichtigung der Übernahme von versicherungsfremden Leistungen durch den Steuerzahler und die möglichen Einsparungen durch die Einführung des Versandhandels für Arzneimittel ergibt sich also durchaus ein Potenzial für Beitragssenkungen. Vielleicht besänftigt das den Zorn über das "Aushängeschild des Unsozialen", die Praxisgebühr.
Beim Thema Praxisgebühr hilft ein Blick über den Rhein nach Frankreich, wo der Arzt einen anfänglichen Obolus seit 1945 einzieht. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum die Franzosen deutlich seltener zum Arzt gehen als ihre östlichen Nachbarn in der Bundesrepublik.
Rainer Büscher ist Redakteur der Wochenzeitung "Das Parlament" in Berlin.