Afrika trägt schwer an seiner Gegenwart. 1995 schrieb ich in einem Beitrag zur Festgabe für Volkmar Köhler, der seinerzeit nach Kräften für eine solide Entwicklungspolitik der CDU sorgte, über Schwarzafrika als einen "blinden Fleck in der Weltpolitik" und ein "Schwarzes Loch in der Weltwirtschaft". Die "schwarzen Löcher" tauchen am 16. Januar 2004 im taz-Artikel zur Afrikareise Bundeskanzler Schröders wieder auf. Korruption, Zusammenbruch der Wirtschaft, Staatszerfall, Staatsterror, Militärputsch, Bürgerkrieg, Krieg, Kindersoldaten, Stammesbesessenheit (Tribalismus) und Stammeskämpfe, Völkermord, schwarzer Rassismus als Echo des weißen, AIDS (und Ignorieren der AIDS-Ursache) - müssen wir noch mehr Schlagworte herunterbeten?
Wer hat Afrika diese Erblasten aufgebürdet? Alte Traditionen? Die Periode europäischer Herrschaft, die nur etwa von 1890 bis 1960 dauerte? Oder ist Afrikas Zustand vornehmlich das Werk der populistischen Diktatoren, die um 1960 in die Schuhe der abziehenden Europäer schlüpften, der viel gescholtenen "Staatsklasse"? Und steht den Lasten nicht wenigstens ein Quäntchen sinnvollen Erbes gegenüber? Verantwortlich für alles Übel sei jedenfalls die Fremd-, die Kolonialherrschaft, lautete viele Jahre das Standard-Argument afrikanischer Politiker. Nicht immer oder überall klangen die Reden einfacher Leute genau so. "Colonialism was better", schrieben schon 1966 tansanische Studenten auf ein Plakat, als sie gegen die Einführung eines Arbeitsdienstes durch Präsident Nyerere protestierten, und 2000 jubelte das Volk in Sierra Leone, als 800 Soldaten aus Großbritannien - das von 1787 bis 1961 Kolonialmacht gewesen war - in den Bürgerkrieg eingriffen, den weder die UNO noch die westafrikanische Staatengemeinschaft ECOWAS befrieden konnten.
2004 ist Deutschland an der Reihe, den Spiegel seiner Kolonialgeschichte vorgehalten zu bekommen. Vor 100 Jahren erhoben sich in Namibia die Herero gegen die Macht Kaiser Wilhelms II. - und jetzt würden sie ganz gern von Berlin Entschädigung kassieren. Starker amtlicher Druck steckt nicht dahinter, denn als das weiße Südafrika seine Apartheid auf Namibia ausdehnte, nahmen die meisten Herero Schulter an Schulter mit den Namibia-Deutschen in der Demokratischen Turnhallen-Allianz eine "gemäßigte" Position ein, die der kämpfenden Befreiungsbewegung SWAPO nicht gefiel - und SWAPO regiert das Land seit der Unabhängigkeit 1990.
Nun ist es keineswegs so, dass wir Europäer, speziell wir Deutsche erst jetzt aufwachen und angesichts der zwei Milliarden Dollar, die Herero-Fürst Riruako einklagen will, merken, dass wir unserer "…kolonialen Vergangenheit nicht länger ausweichen können", wie Jochen Bölsche im "Spiegel" (12. Januar 2004) schrieb. Hätte er das berühmte Spiegel-Archiv gründlich konsultiert, wäre er darauf gestoßen, dass ich am 27. Juli 1970 in eben dieser Zeitschrift das Buch Gert von Paczenskys "Die Weißen kommen - Die wahre Geschichte des Kolonialismus" (Hamburg 1970, 560 S.) rezensiert habe. Inzwischen wissen wir ganz gut, wovon wir reden, und können die beiden Seiten der Medaille beschreiben. Wenn ich "wir" sage, meine ich afrikanische und europäische Historiker gemeinsam, die ja auch zwischen 1981 und 1993 zusammen für die UNESCO die acht Bände der General History of Africa vorgelegt haben. Es sind natürlich viele Medaillen zu betrachten. Im Folgenden beschränke ich mich - durchaus im Bewusstsein, kräftig zu verallgemeinern und nur einige meines Erachtens wichtige Aspekte anzusprechen - auf die Bilanzierung der Kolonial- und Nachkolonialzeit unter den Rubriken Kultur, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik.
Kultur heißt in allererster Linie Sprache. Die Kolonialmächte haben unterschiedlich intensiv ihre eigene Sprache in Verwaltung und Schule Afrikas durchgesetzt. In Deutsch-Ostafrika wurde Swahili als Amtssprache eingeführt und dem heutigen Tanzania vererbt. Die Briten verlangten von ihren Kolonialbeamten in Nord-Nigeria, sich auf Hausa verständigen zu können. Für Grundschulen bevorzugten sie ebenfalls regionale Umgangssprachen, erst auf der Sekundarstufe nahm Englisch deren Platz ein. Frankreich wiederum duldete nirgends, dass in den Schulen seiner Kolonien jemand etwas anderes sprach als Französisch. Das Ziel war natürlich überall, die Mechanismen der Unterwerfung, Kontrolle und "Erschließung" (sprich: Ausbeutung) zu glätten. Erreicht wurde daneben zweierlei Positives: die Verständigung innerhalb der neuen, in aller Regel gegenüber der vorkolonialen Zeit erheblich erweiterten politischen Grenzen wurde erleichtert, und den Bildungseliten wurde der Blick auf Europa und Nordamerika geöffnet. Negativ wirkte, dass eine kulturelle Kluft zwischen dieser Elite und der Masse, die nicht zur Schule ging, aufbrach.
Jedenfalls hat keine nachkoloniale Regierung die Sprache der Kolonialmacht aus dem Lande getrieben (Algerien versuchte es). Als Namibia 1990 die weiß-südafrikanische Verwaltung los wurde, die sich primär des Afrikaans bedient hatte, führte die SWAPO Englisch ein; das bringt den problematischen Vorteil der Chancengleichheit, denn so gut wie niemand spricht in Namibia Englisch als Muttersprache. In Südafrika drückt die Globalisierung Englisch nach und nach durch, obwohl die Politik (ähnlich wie in der Europäischen Union) elf Amtssprachen anerkennt. Eine einheitliche einheimische Nationalsprache ist leider keine Garantie für politische Harmonie. Alle Menschen in Somalia sprechen Somali, das seit 1973 in lateinischen Lettern geschrieben wird; Hutu und Tutsi in Rwanda und Burundi sprechen ein und dieselbe Sprache.
Afrikas Wirtschaft - wen wundert's? - muss sich noch stärker nach der Decke der Globalisierung strecken als seine Kultur, und Regierungen können dagegen ebenso wenig Dämme bauen wie in Europa. Einen ersten Anschluss an einen von Europäern beherrschten Weltmarkt erzwang schon seit dem 16. Jahrhundert der Atlantische Sklavenhandel, als kollektives Verbrechen der Kolonialeroberung 1900 mindestens ebenbürtig. Während des 19. Jahrhunderts löste für mehrere Jahrzehnte "legitimate trade" unter dem Dach eines vornehmlich britischen "informal empire" den Menschenexport ab. Damals stellten sich einige afrikanische Völker in erreichbarer Nähe der Atlantikküste auf den Anbau von "cash crops" um, beispielsweise die Kakaobauern im heutigen Ghana ganz ohne Zwang. Sie sind seitdem auf der Achterbahn der Weltrohstoffpreise durchgerüttelt worden, aber im afrikanischen Vergleich nicht unbedingt schlecht gefahren.
Die Kehrseite dieser Medaille ist der Raubbau an Elfenbein, Kautschuk (im Kongostaat des belgischen Königs Leopold unter mörderischem Zwang) und vor allem an Tropenholz. Dieses Umweltverbrechen griff nach der Unabhängigkeit weiter um sich und löste, als der Wald an der Côte d'Ivoire endgültig zerstört war, in jüngster Vergangenheit die Gewalttaten aus, die in Europa immer noch als "Stammeskämpfe" registriert werden.
Gesellschaftliche Ordnungen des alten Afrika haben bei vielen europäischen Kolonialbeamten eher Bewunderung als Abscheu ausgelöst. Klar: wenn sie sich auf das soziale Netz der afrikanischen Großfamilie verlassen konnten, brauchten sie kein Geld in einen modernen Sozialstaat zu investieren. Althergebrachte Loyalitäten ließen sich auch gut für divide et impera ausnutzen, und bei Bedarf erfanden Europäer und Afrikaner im Wettstreit neue "Stämme" samt "chiefs" (englisch), "chefs" (französisch), "Großleuten" (deutsch). Von wenigen Ausnahmen abgesehen - Sekou Touré zerschlug eine widerspenstige "chefferie" in Guinea nach 1958 -, regierten die neuen Herren mit diesem System gern weiter. Seine negative Seite besteht unter anderem darin, dass der autokratische Kolonialstil der örtlichen Herrschaft und Verwaltung vor allem auf den Dörfern ungebrochen weiterlebte, auch als Mitte der 1980er-Jahre in den Städten Bürger und Gewerkschafter von den nationalen Autokraten Menschenrechte oder gar Demokratie einzufordern begannen.
Das durchschlagende gesellschaftliche Phänomen der späten Kolonial- und der frühen Nachkolonialzeit Afrikas ist das explosive Wachstum der Bevölkerung, dem auch bei günstiger Konjunktur das Wirtschaftswachstum weit hinterher hinkt. Moderne Medizin, im Gepäck der Kolonisatoren zum eigenen Schutz mitgebracht, sickerte zu den Kolonisierten durch. Die Städte begannen zu wuchern. Segen oder Fluch? Ist der "informelle Sektor" der Wirtschaft eher ein Armutsgeschwür und Anzeichen des Staatsversagens - oder der Überlebenskraft afrikanischer Gesellschaften? Der weitere Verlauf der Heimsuchung Afrikas durch AIDS, und der Fortgang des Kampfes gegen AIDS werden vielleicht solche Fragen beantworten.
Damit sind wir bei der Politik. Die politischen Systeme des vorkolonialen Afrika wiesen, als Europäer ab 1900 sie genauer studieren konnten, zwar eine erhebliche Bandbreite auf, die sich grob zwischen Militärmonarchien nach Art des damals schon fast 100 Jahre bestehenden Zulu-Reichs und regierungslosen, von "Segmenten" mit echter oder erfundener gemeinsamer Abstammung getragenen Ordnungen katalogisieren ließ. Manche Forscher filterten auch demokratische Elemente heraus. Individuelle Freiheiten und Rechte nach dem Verständnis der europäischen Aufklärung waren nirgends dominant. Die Kolonialregierungen stülpten Fremdherrschaft über alle diese Systeme und zementierten dadurch ihre autokratischen Tendenzen, nicht zuletzt in den nach 1800 aus islamischem Reformeifer geborenen Emiraten Nord-Nigerias oder nach 1948 in den Bürokratien der Bantu-Heimatländer des Apartheid-Südafrika.
Es bleibt trotzdem wahr, dass die Kolonialherrschaft, nachdem sie den ursprünglichen Widerstand gebrochen und die Aufstände niedergeschlagen hatte, fast ganz Afrika Landfrieden brachte, Sicherheit für Handel und Wandel, der erst in den Bürgerkriegen und Kriegen nach 1960 und in einer Woge banaler Kriminalität vor allem in den Städten verloren ging. Es bleibt wahr, dass Afrikaner unter Kolonialherrschaft anfingen, kritische Zeitungen zu gründen, Gewerkschaften und Berufsverbände aufzubauen, vor Gericht um Rechte zu kämpfen. Diese politischen Werte sickerten aus den demokratischen Metropolen nach Afrika durch.
Summa summarum: Afrika ist heute in erheblichem Umfang etwas, das die europäischen Kolonialmächte in runden 70 Jahren ihrer Herrschaft geschaffen und deshalb zu verantworten haben. Afrikas neue Herren haben wenig, zu wenig daran geändert. Vieles konnten sie nicht ändern, manches setzten sie gern und eifrig zur Festigung der eigenen Macht ein. Und wer jetzt in Afrika Bürgerrechte fordert und darauf pocht, dass es nur eine universal gültige Form von Demokratie gibt, nicht aber eine spezifisch "afrikanische Demokratie", in der alle Tiere gleich, aber einige gleicher als die anderen sind, der zehrt ebenfalls von einem Erbe, einem besseren Erbe Europas, als es Rassismus und Kolonialismus sind.
Franz Ansprenger lebt in Berlin als Professor emeritus für Internationale Politik der Freien Universität.