In seinem autobiographischen Buch "Briefe, die ins Zuchthaus führten" dokumentiert Baldur Haase genau diese Erfahrung. Während eines deutsch-deutschen Arbeiterjugendtreffens Ostern 1958 knüpft der literaturbegeisterte Buchdruckerlehrling Kontakt zu einem jungen Westdeutschen. In ihrem Briefwechsel übt er zunehmend Kritik an der DDR. Was er nicht ahnt: er steht unter MfS-Postkontrolle, seit er sich einem Konstanzer Verlag als Autor anbot und erwähnte, er wolle in die Bundesrepublik übersiedeln.
Als sein Brieffreund ihm Owells "1984" schickt, fotokopiert die Staatssicherheit den Roman, lässt ihn zustellen und verführt Haase so zur Lektüre. Er ist fasziniert, wie Orwell vor jeglicher Spielart des Totalitarismus warnt, diskutiert mit seinem Briefpartner Parallelen in der DDR und leiht das Buch zwei Freunden aus. Sein Schwager, zugleich "Geheimer Informant" des MfS, denunziert ihn.
In einer Phase steigender Flüchtlingszahlen und verschärfter Repressionen trifft es den 19-Jährigen zur Abschreckung anderer wegen "Verbreitung staatsgefährdender Hetze". In seiner Eitelkeit hatte er Notizen und einen ihm zu kritisch erschienenen, nicht abgeschickten Brief aufbewahrt. Nach der Wohnungsdurchsuchung triumphiert der Vernehmer: Auch der Versuch sei strafbar. Bei Orwell noch Fiktion, verschärft hier das Delikt des "Gedankenverbrechens" die Anklage. Das Urteil: drei Jahre und drei Monate.
Nach seiner Entlassung lebt Haase mit Angstzuständen und bei banalsten Anlässen in der Furcht, erneut verhaftet zu werden.1963 heiratet er nach Jena, arbeitet wieder als Buchdrucker, bis ihn 1970 der "Große Bruder" in Gestalt der Abteilung Kultur der SED-Bezirksleitung Gera fürsorglich in die Arme schließt und ihm eine Stelle im Bezirkskulturkabinett zur Anleitung "Schreibender Arbeiter" offeriert. Haase taucht dort ab, spielt den Überzeugten, damit man ihn in Ruhe lässt und wird später beim Studium seiner Stasi-Akten erfahren, dass er bis 1989 unter Postkontrolle stand.
Sein nachwirkender Schreck ist ahnbar, wenn er schreibt: "Sieben Jahre lang hatte die Gedankenpolizei in Ozeanien Winston Smith wie einen Käfer unter der Lupe beobachtet. Die Gedankenpolizei der Staatsfirma Honecker & Mielke beobachtete mich sogar zweiunddreißig Jahre."
Haase ist nicht der einzige DDR-Bürger, den Orwells Roman ins Zuchthaus brachte. Um so hervorhebenswerter ist es, dass der auf Zeitzeugenerinnerungen spezialisierte Berliner Verlag mit diesem Buch das "Big-Brother"-Prinzip der SED-Macht den aktuellen Verklärungstendenzen entgegenstellt.
Baldur Haase
Briefe, die ins Zuchthaus führten. Orwells "1984" und die Stasi.
DDR-Erinnerungen 1948 -1961.
JKL Publikationen Berlin, 2003, 224 S., 19,80 Euro