Zu den Desiderata bei der wissenschaftlichen Erforschung der DDR-Geschichte zählt noch immer die Außenpolitik. Das ist zum einen der lange vorherrschenden Meinung geschuldet, der hohe Grad der Abhängigkeit von der Hegemonialmacht Sowjetunion habe gar keine eigenständige Außenpolitik erlaubt, deren Untersuchung sich lohnen würde. Außerdem standen in den ersten 13 Jahren der wissenschaftlichen Aufarbeitung der SED-Diktatur andere Themen im Vordergrund des (auch tagespolitisch motivierten) Erkenntnisinteresses, vor allem die Rolle des Repressionsapparates und der Stellenwert oppositioneller und widerständiger Bestrebungen.
Der Mangel an einschlägigen Projekten liegt auch an der unzureichenden Zugänglichkeit westlichen Archivmaterials, das der 30-Jahres-Sperrfrist unterliegt. Diese Einschränkung betrifft auch die Überlieferung des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der DDR, während die anderen Staats- und Parteiakten der DDR der Forschung nahezu vollständig zur Verfügung stehen. Hermann Weber hat diese "Asymmetrie" immer wieder beklagt und gefordert, der Wissenschaft zumindest die Arbeit mit den Überlieferungen der alten Bundesrepublik bis 1989/90 zu ermöglichen.
Der als "Potsdamer Textbuch" erschienene und dem Historiker Claus Montag zugeeignete Sammelband stellt Bausteine bereit, die von einer noch ausstehenden, quellengestützten Gesamtdarstellung der DDR-Außenpolitik berücksichtigt werden müssen. Es handelt sich um neu bearbeitete Aufsätze vorwiegend ostdeutscher Autorinnen und Autoren, die nach 1990 vornehmlich in der deutsch-polnischen Zeitschrift "WeltTrends" erschienen sind und sich mit den Beziehungen der DDR zu Polen, der Tschechoslowakei, China, Kuba und Lateinamerika befassen.
Hinzugekommen sind Texte von Siegfried Schwarz über das Verhältnis der DDR zur Europäischen Gemeinschaft, von Raimund Krämer über "die ganz andere Beziehung" zu Chile sowie von Claus Montag über die USA in der Westforschung der DDR - alles-samt Themen, die bislang kaum im Mittelpunkt der Forschung standen.
Im einleitenden Aufsatz geht Dieter Segert der aktuellen Diskussion um das Erbe beziehungsweise das mediale Weiterleben der DDR nach. Seine Klagen über die Entwertung des "sozialen Kapitals der Ostdeutschen" sind nicht neu, der Verweis auf die Leistungen der DDR-Bürgerinnen und Bürger im Revolutionsherbst berechtigt. Ob der Staatssozialismus in Osteuropa wirklich als "partiell geglückter Weg der Modernisierung" zu kennzeichnen ist und ob im "vergessenen politischen Erbe der späten DDR" Ressourcen für die aktuelle Reformdebatte liegen, scheint jedoch fraglich. Gesellschaftspolitische Fragen sind aus außenpolitischer Perspektive kaum zureichend zu beantworten.
Erhard Crome/Jochen Franzke/Raimund Krämer (Hrsg.)
Die verschwundene Diplomatie.
Beiträge zur Außenpolitik der DDR.
Potsdamer Textbuch 6.
Berliner Debatte Wissenschaftsverlag, Potsdam 2003; 287 S., 16,- Euro