Das eine Buch erzählt von einer glückhaften Kindheit trotz schwieriger Umstände und von der Jugend, die nach dem Fall der Mauer kam und die hinausführte in die ersehnte große Welt. Das zweite Buch berichtet von einer ungewöhnlichen Begegnung im Stasi-Gefängnis - eine Begegnung, die nach mehr als einem Jahrzehnt zu einer noch ungewöhnlicheren Beziehung führt. Beide Bücher sind Erinnerungsbücher, die emotional engagiert, aber sachlich genau berichten.
Der Widerstreit vieler DDR-Bürger zwischen Auflehnung und Anpassung, zwischen staatstragendem Gehorsam und persönlichem Lebensentwurf findet in der Liebesbeziehung zwischen dem Offizier der Staatssicherheit und der jungen Frau, die als Dissidentin verhaftet wird, zwischen Vernehmer und Gefangener, ein deutliches Bild. Scheinbar Unvereinbares findet sich hier zusammen, und die festgelegten Rollen stimmen plötzlich nicht mehr, das Feindbild bröckelt.
Wenn es sich nicht um die authentische Geschichte des Autorenduos handelte, müsste man wohl von einem sentimentalen Märchen sprechen. Denn die Geschichte der beiden Feinde geht nach 16-jähriger Unterbrechung weiter. 1997 begegnen sich die beiden erneut und setzen sich jetzt mit ihrer Vergangenheit auseinander. Und sie machen es sich damit keineswegs leicht. Gemeinsam suchen sie die früheren Unrechtsorte - das Stasi-Untersuchungsgefängnis in Hohenschönhausen in Ostberlin, das jetzt Gedenkstätte ist, und das Frauengefängnis Hoheneck in Sachsen - auf.
Der einstige Vernehmer Uwe Karlstedt hat sein Leben nach ihrer ersten Begegnung nicht verändert. Er hat weiter an seiner Stasi-Karriere gewerkelt und es bis zum Major gebracht, und er lebt auch 1997 mit seiner Familie zusammen. Aber vergessen konnte er die junge Frau, die er einmal stundenlang verhört hatte, nicht. Ein Telefonanruf genügt, um 16 Jahre später alles ins Wanken zu bringen. In 27 Kapiteln erzählt das Autorenduo, wechselseitig aus der Sicht des Opfers und des Täters, eine persönliche Geschichte, ohne dabei zu beschönigen oder zu unterschlagen.
Die Schwedenfähre legt in Saßnitz ab und fährt am Horizont entlang nach Trelleborg. Ein weißes Traumschiff, unerreichbar für den nichtprivilegierten DDR-Bürger. Unerreichbar auch für Claudia Rusch, die Autorin eines Bandes mit 25 Einzelgeschichten, die aus Kindheit und Jugend der Autorin berichten. "Meine freie deutsche Jugend" ist ein Erinnerungsbuch, und zwar von einer Autorin jener Generation, deren Abschied von der Kindheit mit dem Ende der DDR zusammenfiel. Das zwitterhafte, zwischen Roman und Sachbuch unstet schweifende Erzählen teilt es mit Hensels vielbesprochenem Buch "Zonenkinder".
Claudia Rusch war beim Ende der DDR 18 Jahre alt. Sie schildert rückblickend Kindheitserlebnisse zwischen Rügen und Prag, die Überwachung und Bespitzelung der Familie durch die Staatssicherheit, Diskriminierung und Widerstand in der Schulzeit. Später gelangt sie doch noch an Bord der Schwedenfähre. Sie sieht das Mittelmeer, und am Ende findet sie mit ihrem kleinen roten Skoda ganz allein den Weg zu einer Bar im Stadtzentrum von Paris. Ohne Stadtplan. Da fühlt sie sich angekommen im Westen, in der herbeigesehnten Zukunft, "im richtigen Leben".
Das Interessante an diesen Texten liegt in der Biografie der Autorin begründet: Claudia Rusch wuchs im Umfeld der DDR-Bürgerrechtsbewegung auf und nahm damit eine Außenseiterposition ein, zu der sie sagt: "Manchmal wäre ich gern angepasster DDR-Durchschnitt gewesen."
In einem ihrer Texte schildert sie ihre Jugendweihe, eine "Kreuzung aus Konfirmation und Debütantinnenball". Der Anblick ihres Vaters, der dem Zeremoniell in NVA-Uniform beiwohnt, führt ihr vor Augen, dass nicht der uniformierte Vater seine Verkleidung trug, sondern sie selbst: "Es sah nur so aus, als bekannte ich mich hier zu Staat und Sozialismus, in Wirklichkeit war alles ganz anders."
War alles ganz anders? Beide Bücher berichten von persönlichen Geschichten, handeln von realen Personen und Geschehnissen. Es sind Texte, in denen - und darin kann auch ein literarischer Anspruch liegen - exemplarisch aufscheint, was für DDR-Biographien allgemein zutreffen mag: Nämlich die gemeinsame Erfahrung eines Alltags, der gleichzeitig als normal und als absurd empfunden werden musste, der Anpassung einforderte und Auflehnung zuließ, der sich zwischen Normalität und einer Monstrosität Orwellscher Dimension bewegte.
Regina Kaiser / Uwe Karlstedt
Zwölf Heisst Ich Liebe Dich.
Der Stasi-Offizier und die Dissidentin.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003;
299 S., 19,90 Euro
Claudia Rusch
Meine Freie Deutsche Jugend.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2003;
157 S., 14,90 Euro