Was haben Schule und Politik gemeinsam? Beides findet allzu oft hinter verschlossenen Türen statt. Könnte man meinen. Nicht so Mitte Februar im Reichstag: Vor den Fraktionssälen springen Schüler und Schülerinnen zwischen Schulexpertinnen und Bildungspolitikern herum. Die SPD-Fraktion hat zum Kongress "Engagement macht Schule" geladen. Auf einem Markt der Möglichkeiten zeigen Initiativen aus ganz Deutschland, wie sich Pennäler über den Unterricht hinaus engagieren. Wie sie Verantwortung übernehmen, innerhalb der Schule etwa als Tutor für türkische Grundschüler oder außerhalb als Vorleserin für eine blinde alte Frau. Bei ihrem Einsatz werden sie nicht nur von Lehrern ermuntert und angeleitet, sondern vor allem von Ehrenamtlichen. Stets berufen sich die Projekte auf die Erkenntnis: Im richtigen Leben lernt man leichter und besser als nur im Klassenraum. Und man erweist sich selbst einen Dienst, wenn man etwas für andere tut.
Ein durchaus innovativer Ansatz, wie schon die Umstände des Forums offenbarten: Wann herrscht im altehrwürdigen Reichstag schon mal eine so ausgelassene Stimmung? An dem Stand des SchülerHelfenLeben e.V. aus Neumünster sitzen Teenager in der Mittagspause zusammen und stimmen zu Gitarren-Akkorden Popsongs an. Nicht weniger neu die Atmosphäre im SPD-Fraktionssaal: "Noch nie hat dieser Raum hier eine so andächtige Konzentration erlebt", lobt die Organisatorin, die Bundestagsabgeordnete Ute Kumpf.
Die Aufmerksamkeit gilt unter anderem Vincent Steinl. Der 17-Jährige aus der Nähe Aschaffenburgs steht für die BundesschülerInnenvertretung auf dem Podium. Mit einer Hand in der Hosentasche redet er geradlinig - und meist kürzer als die erwachsenen Mitdiskutanten: "Wir möchten nachdrücklich davor warnen, bürgerschaftliches Engagement in die Schule zu holen, ohne das Schulsystem als Ganzes zu verändern." Die Angebote von außen dürften nicht auf den Nachmittag verdrängt werden, stattdessen müssten sie gleichberichtigt den Schulalltag bestimmen. "Wir wollen fürs Leben lernen."
Eine Position, die viele der über 400 Kongressteilnehmer aus den verschiedensten Bereichen teilen. Dass der Schulunterricht relativ abgeschottet allein von Lehrern gestaltet wird, sei eine deutsche Spezialität, berichtet Anne Sliwka von der Universität Erfurt. Als ebenso engstirnig bezeichnet sie die verbreitete Haltung gegenüber verschiedenen Lernformen: "In Deutschland wird kognitives und affektives Lernen immer gegeneinander ausgespielt", bedauert die Wissenschaftlerin.
Dabei sei Lernen besonders dann erfolgreich, wenn es sozial eingebettet und in übergeordnete Projektzusammenhänge eingebunden ist. Zum Beispiel, wenn sich Schüler als Gemeindedetektive betätigen, um in ihrem Umfeld Probleme aufzudecken und Lösungen zu finden. In der Mainzer Neustadt etwa werden sie mit der Einsamkeit im Altersheim konfrontiert. Zusammen mit den Eltern organisiert man Nachmittage der Begegnung, auf denen sich Jung und Alt einmal anders kennen. In Essen dagegen wird ein Bach gehegt und gepflegt. Das Verständnis für ökologische Zusammenhänge wird im Unterricht vertieft.
Anderswo ist solche Schulbildung schon gang und gäbe. An US-amerikanischen High-Schools beteiligen sich bereits zwei Drittel der Schüler am so genannten "Service Learning". Die erworbenen sozialen Kompetenzen werden den Schülern zertifiziert, ihre Leistung wird allgemein anerkannt. Nun gerät die Öffnung der Schule auch in Deutschland verstärkt auf die Agenda der Kultusministerien. Ein Anlass dafür: Das Tagesprogramm der geplanten Ganztagsschulen will gefüllt werden. In Rheinland-Pfalz werden bereits ein Drittel der Stunden von außerschulischen Kräften bestritten. Zum Beispiel von Vertretern der Wohlfahrtsverbände oder der Handelskammern. Vor allem aber erkennen viele Diskutanten in der offenen Schule ein Leitbild für die grundsätzliche Neuausrichtung der Schulbildung - weg vom "pädagogischen Stundenhotel" (GEW-Vertreter Norbert Hocke) und hin zum "Haus des Lernens und des Lebens" (Renate Hendricks, Vorsitzende des Bundeselternrates).
Aus Sicht von SPD-Bildungspolitikerinnen eine lohnenswerte Perspektive: Die Lerninhalte werden von außen bereichert, das Wissen wird praktisch angewandt, und nicht zuletzt werden die engagierten Schüler auch später zu den Bürgern zählen, die soziale Verantwortung übernehmen. Zu jener Gruppe also, die den viel beschworenen Kitt der Gesellschaft bilden. Bei alldem, so schärft Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Rede am Nachmittag ein, müsse es aber auch um ökonomische Notwendigkeiten gehen: "Unsere Gesellschaft kann es sich nicht mehr leisten, Begabungsressourcen unausgeschöpft zu lassen."
Das ist nicht ganz der Ansatz von Vincent Steinl und dem Arbeitskreis "Schüler gestalten Schule", den der Gymnasiast vertritt. Sobald die Anforderungen der Wirtschaft auf die Schule übertragen werden, sieht er Bildung in Gefahr. Dann verkomme Schule zur Ausbildungsstätte, und die Erziehung zu Selbstständigkeit ginge verloren. "Ich will nicht homo oeconomicus sein, sondern homo sapiens", sagt der Schülervertreter. Doch wie ist die Öffnung der Schule zu verwirklichen? Wo doch alle über Missstände klagen: die Schüler über Prüfungsdruck, die Lehrer über zu wenig Freiraum, die Schulleiter über bürokratische Fesseln und die Ministerien über Geldmangel. Um die Schule menschlicher und dadurch besser zu machen, so einige der Antworten vom Podium, müssten die Bürokratie abgebaut, der Leistungsbegriff weiter gefasst und die Jugendarbeit in den Schulalltag integriert werden.
Bleiben weitere Fragen: Soll das Engagement der Schüler in den Lehrplänen als verpflichtend verankert werden? Wie soll es bewertet werden? Hier meldet der Schülervertreter Steinl die weitreichendsten Forderungen an: Das Vermessen von Leistung durch Ziffern lehnt er ab. "Noten sagen doch nichts über mich aus." Zwänge aufzubauen, um das Lernen zu fördern - für Steinl ein Widerspruch.