Parlamente sind politische Institutionen. Traditionell werden sie in der Regel einer Funktionsanalyse unterworfen. Diese orientieren sich zumeist an Analyserastern, die aus den Anfängen des britischen Parlamentarismus rühren. Kein Wunder, dass Parlamente unter solchen Fragestellungen defizitär, ohnmächtig, manchmal gar überflüssig erscheinen. Wer wollte heute noch bezweifeln, dass ihr Anteil an der politischen Willensbildung im Zeitalter von Mediendemokratien sehr begrenzt ist.
Um so wichtiger ist es, zeitadäquate Instrumentarien zu entwickeln, um die empirische Realität der gesetzgebenden Vertretungskörperschaften neu zu verorten. Die Parlamentarismusforschung unternimmt dazu unterschiedliche Wege. Der Dresdner Politikwissenschaftler Werner Patzelt nähert sich dem Problemkomplex über den Begriff des institutionellen Lernens. Aus der Policy-Forschung ist dieser lerntheoretische Zugang bekannt. Dabei wird von lernenden politischen Akteuren ausgegangen, die durch den Lernprozess - und nicht etwa durch ökonomische Prozesse - politische Veränderungen begründen.
Für Patzelt bedeutet institutionelles Lernen eine messbare Wandlungsfähigkeit der Institution, wobei sich die Ausrichtung an einer sich verändernden Leitidee zu orientieren hat. Hintergrund bleibt die Überlegung, dass sich lernfähige Parlamente gerade dadurch auszeichnen, dass sie leistungsfähiger und mithin auch stabiler sind als nichtlernfähige Institutionen.
Um das theoretisch zu erarbeiten, setzt Patzelt ein umfangreiches Rahmenwerk an den Anfang der Studie. An fünf Fallbeispielen soll anschließend im Buch nachgewiesen werden, welche Lerneffekte eingetreten sind. Romy Messerschmidt problematisiert den Funktionskatalog am Beispiel der französischen Nationalversammlung. Stephan Dreischer widmet sich dem Europäischen Parlament. Joachim Amm fragt nach der Rolle des kanadischen Senats. Roland Schirmer möchte herausbekommen, was die sozialistische Volkskammer konkret bewirken konnte.
Leider fehlt, wie so häufig in Sammelpublikationen, eine in sich schlüssige, abgeleitete Zusammenfassung, die problematisiert, worin die generalisierbaren Ergebnisse bestehen könnten. Denn die Beispiele zwischen freiheitlichen und sozialistischen Parlamenten, zwischen föderalen und ständischen parlamentarischen Wurzeln sind begründungspflichtig. Jede Fallstudie für sich ist allerdings eine wertvolle Bereicherung der Parlamentarismusforschung. Die Volkskammer war als Schein-Parlament chancenlos für Lernprozesse. Institutionelle Wandlungsfähigkeit setzt einen freiheitlichen Rahmen voraus. Doch die Richtung des Lernprozesses ist, wie die Länder-Beispiele zeigen, vom konkreten institutionellen Arrangement und von den Erwartungshaltungen der Bürger abhängig.
Im abschließenden Beitrag von Ute Roericht und Patzelt wird die Wahrnehmung von Parlamenten demoskopisch beleuchtet. Das Ansehen der Parlamente hält sich deutlich in Grenzen, ist jedoch vergleichsweise hoch im Verhältnis zur Reputation der Parteien. Vertrauensverluste kennzeichnen die Einstellungen der Bürger gegenüber ihren Parlamenten. Der Ansatz der Studie macht jedoch Hoffnung. Denn wenn eine institutionelle Lernfähigkeit in freiheitlichen Systemen existiert, kann auch Bürgervertrauen gegenüber den Parlamenten wieder wachsen. Karl-Rudolf Korte
Werner J. Patzelt (Hrsg.)
Parlamente und ihre Funktionen.
Institutionelle Mechanismen und institutionelles Lernen im Vergleich.
Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2003; 476 S.,
39,90 Euro