Ganz oben war sie schon, wie die meisten Besucher, die das Reichstagsgebäude in Berlin seit seiner Wiedereröffnung im April 1999 besichtigten. Als Elke Jöst zusammen mit ihrem Ehemann Walter vor ein paar Jahren die weite Reise aus Hessen antrat, um von der neuen Glaskuppel des Reichstages einen Blick auf ihre Geburtsstadt zu werfen, hatte sie nicht daran gedacht, den Hausherrn einmal persönlich zu treffen. Doch am 29. März 2004 war es so weit: Sie wurde von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) empfangen, und der Grund dafür lag ganz unten, im Keller des Reichstagsgebäudes. Hier wurde sie im Februar 1944 geboren, ein "Reichstagskind".
Seit im November 1943 der Großangriff alliierter Bomber auf Berlin begonnen hatte, gehörten nächtlicher Bombenalarm, Zerstörung und Ausnahmezustand zum Alltag. Kinder wurden trotzdem geboren. Aber ausgerechnet im Keller des Reichstages, dieses Symbols für Entwicklung und Zerstörung der Demokratie in Deutschland? Seit dem Reichstagsbrand 1933, nach dem die Kuppel nur notdürftig ausgebessert worden war, diente das Gebäude hauptsächlich propagandistischen Zwecken der Nationalsozialisten. Zum Beispiel wurde hier 1938 die Ausstellung "Entartete Kunst" gezeigt. Während des Zweiten Weltkrieges boten die vier Meter dicken Betonwände der Luftschutzbunker einen besseren Schutz vor Bomben als die Kellerräume der meisten Mietshäuser. Hier konnten schwangere Frauen ihre Kinder sicherer zur Welt bringen und taten dies anscheinend öfter als bisher bekannt.
"Geboren im Reichstagsgebäude" steht in der Geburtsurkunde von Elke Jöst, die Wolfgang Thierse staunend in den Händen hält: "Wir erleben ja hier im Gebäude ständig zum Teil schwere Entbindungen von Gesetzen, aber dass hier auch Kinder zur Welt gekommen sind, wusste ich bis vor kurzem noch nicht", sagt er. Elke Jöst dagegen wusste schon immer von ihrem ungewöhnlichen Geburstort, nur mehr weiß sie eben nicht. Ihre Mutter starb, als sie drei Jahre alt war, und auch den Vater lernte sie nie kennen. So kam sie zunächst in ein Kinderheim in Kreuzberg, bevor sie schließlich von Pflegeeltern adoptiert wurde. 1965, da hatte sie bereits eine kaufmännische Lehre hinter sich, verließ sie Berlin und zog nach Bad Kreuznach: "Durch die Mauer war das ja doch alles ziemlich eingeengt, und wir wollten reisen und die Welt sehen", so Jöst über die Gründe. Obwohl ihre "Wurzeln" in Messel, einer Kleinstadt bei Darmstadt liegen, beschreibt sie Berlin als die "Heimatstadt". Es sei eine "schöne Überraschung, hier sein zu dürfen", sagt sie auf Nachfrage des Bundestagspräsidenten.
Abgesehen davon, dass Elke Jöst ihre Mutter nicht selbst über die Umstände ihrer Geburt fragen konnte: Auch die Historiker konnten bisher nicht einheitlich klären, wo genau sich entsprechende Räume in den Kellergewölben des Reichstages befanden und von wem sie dort eingerichtet und betrieben worden sind. Fest steht nur, dass in den Jahren 1943 und 1944 dort Kinder zur Welt kamen, belegt einzig durch die Geburtsurkunden jener "Reichstagskinder", die bisher bekannt sind. Und das sind wenige. Spekulationen, wonach es sich bei den Räumen um eine Geburtsstation der Charité gehandelt habe, zweifelt Volker Hess, Professor am Institut für Geschichte der Medizin an der Charité an: "Zwar sind die Unterlagen der Geburtsklinik im Krieg verbrannt, aber es spricht nichts dafür, dass dort eine Klinik ausgelagert worden wäre. Dafür existierten bereits riesige Bunkeranlagen im Zentrum Berlins, mit Operations- und Kreißsälen."
Ein überlieferter Befehl Hitlers vom September 1940 legt ebenfalls einen anderen Schluss nahe. In ihm ordnete er an, den Keller des Reichstages zu einem Luftschutzraum "für Kinder und Wöchnerinnen" auszubauen. Konzipiert war er anscheinend für über 200 Kinder und ungefähr 40 Frauen. Demnach hätte es sich weniger um eine Klinik im eigentlichen Sinn gehandelt, als vielmehr um einen Ort, an den sich auch schwangere Frauen während der Bombenangriffe zurückzogen, um notfalls hier, in relativer Sicherheit ihre Kinder zu bekommen - aber unter Aufsicht medizinischen Personals der Charité, wie es Aussagen von Müttern anderer "Reichstagskinder" vermuten lassen. Es existieren auch Unterlagen, die eine "halbe" Kliniklösung nahelegen, nach der zumindest Teile der geburtshilflichen Abteilung der Charité in Übereinstimmung mit Hitlers Befehl 1940 in die Luftschutzbunker verlagert wurden.
Michael Cullen, Berliner Historiker und Kenner der Reichstagsgeschichte, wusste bisher wenig über diesen Teil der Geschichte, da die meisten Materialien vernichtet wurden. Seine Recherche im Standesamt Berlin-Mitte, in dem sich die entsprechenden Geburtsurkunden befinden, brachten jedoch eine kleine Sensation zu Tage: Allein von August bis Dezember 1943 wurden 19 Kinder im Reichstagsgebäude geboren. Bisher gingen die Schätzungen insgesamt von ungefähr zehn Geburten aus. Cullen: "Deshalb vermute ich, dass es insgesamt 80 solcher 'Reichstagskinder' geben könnte." Eine Vermutung, die sich aus den standesamtlichen Unterlagen allein nicht erhärten lässt, da die Akten des Jahres 1944 und 1945 in den Kriegswirren komplett vernichtet worden sind.
Eine weitere Recherche ist also auch auf die "Reichstagskinder" selbst angewiesen, die dazu beitragen könnten, dieses noch weitgehend unbekannte Kapitel des Gebäudes zu rekonstruieren.