Dabei gestaltete sich Zwahrs beruflicher Werdegang typisch für jene Nachkriegsgeneration, deren Bildungsweg durch die offensive Sowjetisierung der ostdeutschen Gesellschaft und ihrer Institutionen geprägt war. Nach der Ausbildung zum Bibliothekar und der Reifeprüfung an der Arbeiter- und Bauernfakultät studierte der aus einer kleinbürgerlichen Familie Stammende (der Vater war Angestellter) in Leipzig Geschichte, Germanistik und Pädagogik, bevor er dort 1963 mit einer Arbeit über die antisorbische Staatspolitik im deutschen Kaiserreich promoviert wurde. 1974 erfolgte die Habilitation mit einer Studie über die Konstituierung des Leipziger Proletariats, die bei ihrem Erscheinen (1978) auch in Westdeutschland aufmerksam rezipiert wurde.
Jürgen Kocka war damals zwar nicht mit allen Resultaten einverstanden, dennoch bezeichnete er das Werk als "ungewöhnlich originell, gelungen und weiterführend". Die Studie dokumentiert eine quantitative Sozialstrukturanalyse, die - damals erstmalig in der DDR-Historiographie - auf statistischen Massendaten basierte. Auf der Grundlage von Taufregistern und daraus ableitbaren Patenschaftsverhältnissen untersuchte Hartmut Zwahr den Klassenbildungsprozess unter wirtschafts-, sozial-, kultur- und politikgeschichtlichen Aspekten.
Dabei sah er sich mit seinem methodischen Ansatz in der Tradition von Jürgen Kuczynski, Hans Mottek und Ernst Engelberg; er schrieb implizit jene Traditionslinie fort, die sich seit der Wende zum 20. Jahrhundert, zumal in Leipzig, mit dem Namen Karl Lamprechts verbindet. Von der Habilitationsschrift Zwahrs gingen derart starke Impulse aus, dass ihr Erscheinen als Zäsur innerhalb der DDR-Historiographie gilt.
Seit 1978 wirkte Zwahr als Professor an der Sektion Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig, wo er 1982 gemeinsam mit anderen Historikern den Leipziger Sozialgeschichtlichen Arbeitskreis gründete. Dies ist insofern erwähnenswert, als eine Teildisziplin Sozialgeschichte in der DDR erst spät in Erscheinung trat.
Ausgehend von der ideologisch verbindlichen Prämisse, dass letztlich jede marxistische Historiographie, indem sie von der Gesellschaft, ihren Klassen und Schichten auszugehen habe, Sozialgeschichte sei, wurde einem originären sozialgeschichtlichen Ansatz unterstellt, er würde die marxistische Geschichtstheorie in Frage stellen. Erst seit den 70er-Jahren, vor dem Hintergrund der Erbe- und Traditionsdebatte und dem damit verbundenen Perspektivwechsel, gelang es den Befürwortern einer eigenen Teildisziplin, diese Vorwürfe zu entkräften und der "weiten" Definition von Sozialgeschichte eine "enge" an die Seite zu stellen. Diese konnte sich nun explizit mit der näheren Bestimmung sozialer Gruppen, Schichten und Klassen beschäftigten, also mit Makro- und Mikrogruppen, mit Lebensweisen, Alltag, sozialem Verhalten et cetera.
Allerdings gelang es bis zum Ende der DDR nicht, eine entsprechende Teildisziplin auch institutionell zu etablieren. Es basiert aber vermutlich gerade auf diesem Ansatz, dass Hartmut Zwahr so schnell und so erfolgreich wie kaum ein zweiter der ostdeutschen Kollegen auch in der neuen Bundesrepublik seinen wissenschaftlichen Platz fand. So erhielt er 1992 erneut einen Ruf an die Universität Leipzig und hatte dort bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2001 den Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte inne. Ebenso erwähnenswert ist seine Tätigkeit als Mitherausgeber der Zeitschrift "Geschichte und Gesellschaft".
Nicht nur diese Vita macht die Festschrift bemerkenswert, sondern auch der Kreis der beitragenden Autoren. Der Band vereint 46 Essays zu sozial-, struktur- und kulturhistorischen Themen, verfasst von bedeutenden, zumeist Leipziger Kollegen und von Novizen, die durch die Schule Hartmut Zwahrs gegangen sind. Die Schrift gliedert sich in drei Teile, wobei der erste unter dem Leitgedanken "Tradierungen und Interpretationen" steht. Er enthält Beiträge von Jürgen Kocka, Hans-Ulrich Wehler, Friedrich Lenger, Wolfgang J. Mommsen, Georg G. Iggers, Volkmar Weiss, Wolfgang Kaschuba, Rainer Eckert und Ulrich von Hehl. Thematisch spannt sich der Bogen dabei von der europäischen Geschichte der Arbeit bis zum Konflikt um das Hannah-Arendt-Institut in Dresden.
Der zweite Teil spürt "Figuren und Strukturen" nach und subsumiert Aufsätze von Franz-Reiner Erkens, Thomas Vogtherr, Henning Steinführer, Uwe Schirmer, Jens Bruning, Helmut Bräuer, Manfred Rudersdorf, Manfred Hettling, Gerhard Heitz, Karl-Heinz Blaschke, Günther Heydemann, Thomas Keiderling, Rudolf Boch, Susanne Schötz, Beate Klemm, Jan Havránek, Stephan Niedermeier, Arno Herzig, Heinrich August Winkler, Kerstin Kretschmer, Hanna Haack und Heinz-Gerd Hofschen sowie Michael Riekenberg. Diese Essays skizzieren vor allem Gestalten aus der Zeit des 8. bis 20. Jahrhunderts.
Der dritte Schwerpunkt fragt nach "Regionen und Institutionen" und vereint Abhandlungen von Manfred Straube, Markus Huttner, Andreas Schöne, Wolfgang Uhlmann, Michael Hammer, James Retallack, Uwe John, Erhard Hexelschneider, Jens Blecher und Gerald Wiemers, Michael Rudloff, Volker Titel, Detlef Döring, Siegfried Hoyer, Dietrich Scholze und Thomas Topfstedt. Hier steht vor allem die Geschichte sächsischer beziehungsweise Leipziger Einrichtungen im 19. und 20. Jahrhundert im Mittelpunkt. Was auf den ersten Blick wie ein "Leipziger Allerlei" wirkt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein, um im Bild zu bleiben, Lob der "Delikatessen", die Zwahr bislang servierte:
Einerseits bestellt er mit seinen Studien über Arbeiter und Bürgertum, über Frauen- und Geschlechtergeschichte, über Handel, Handwerk und Gewerbe, die Geschichte des Buchhandels oder die der Sorben ein beeindruckend großes Feld. (Das Schriftenverzeichnis weist knapp 180 Titel aus, von denen etwa die Hälfte nach 1990 erschien.) Andererseits verfolgte er auf seinem wissenschaftlichen Weg schon die Konzeptionierung einer "dialektischen Sozialgeschichte", wobei er sich seit den 70er-Jahren, als der selektive Blick auf die Arbeiterbewegung zunehmend einer Beschäftigung mit der ganzen deutschen Geschichte wich, vor allem mit der Klassendialektik zwischen "Proletariat und Bürgertum" beschäftigte. Dabei standen bei ihm auch hier weniger die geschichtsphilosophischen Postulate und der Erweis ihrer Richtigkeit als vielmehr die konkreten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Protagonisten im Zentrum des Interesses. Personen wurden in charakteristische Situationen und Handlungsbedingungen eingebunden, um "am Wandel der Figuren den Wandel der Strukturen" zu verdeutlichen.
Im Titel des Buches spiegelt sich mithin Hartmut Zwahrs wissenschaftlicher Ansatz. Dessen ungeachtet war Zwahr jedoch durchaus von einer sozialistischen Alternative auf deutschem Boden überzeugt, und zumindest bis zur Wende in der DDR fühlte er sich derPrämisse vom gesellschaftlichen Fortschritt und von der Erlangung menschlicher Freiheit verpflichtet und verbunden, was sich nicht zuletzt auch in seinem 1990 erschienenen Werk "Herr und Knecht. Figurenpaare in der Geschichte" par excellence ablesen lässt. Was aber diese Forschungserträge von vielen (nicht allen!) anderen, dem materialistischen Ansatz verpflichteten Untersuchungen unterscheidet, ist das Faktum, dass sie auch dann noch ihre wissenschaftliche Gültigkeit behalten, wenn sie der politischen Setzungen entkleidet werden.
Eben darin liegt das große Verdienst Hartmut Zwahrs, der den materialistischen Ansatz als wissenschaftliche Methode ernst nahm und auf diese Weise verschiedene seiner Theorieelemente für die moderne Sozialgeschichte fruchtbar gemacht hat. Das Erscheinen dieses Bandes lässt damit zugleich hoffen, dass der materialistische Ansatz trotz seines langen Missbrauchs als politisches Programm in der deutschen Historikerzunft zunehmend mehr Akzeptanz findet, nicht zuletzt deshalb, weil es sich um ein aus dem19. Jahrhundert überkommenes Erbteil nationaler Historiographiegeschichte handelt.
Figuren und Strukturen. Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag.
Hrsg. von Manfred Hettling, Uwe Schirmer und Susanne Schötz. Unter Mitarbeit von Christoph Volkmar.
K. G. Saur, München 2002; 834 S., 78,- Euro