Der Vergleich ist in der Historiographie ein legitimer Weg des Erkenntnisgewinns. Hans-Ulrich Wehler hat ihn sogar als "Königsweg" bezeichnet. Gleichwohl wird einer komparatistischen Analyse beider deutscher Diktaturen häufig Skepsis entgegengebracht, oft mit dem Argument, Unzulässiges und Unvergleichbares auf eine Stufe zu stellen.
In der Tat steht die vergleichende Diktaturforschung in Deutschland noch weitgehend am Anfang; wenn überhaupt, hat hier nur die länderübergreifende Forschung zu Faschismus und Nationalsozialismus eine respektable Tradition. Die beiden fundamentalen Negationen der liberalen und parlamentarischen Demokratie im Deutschland des 20. Jahrhundert schienen für Teile der politischen Öffentlichkeit und der Publizistik wegen des zunächst gefeierten, dann in Verruf geratenen und seit den 80er-Jahren wiederbelebten Totalitarismus-Paradigmas einer konfrontativen Perspektive entzogen. Allerdings hatten namhafte Verfechter wie Karl Dietrich Bracher schon frühzeitig die konkrete und detaillierte Erforschung aller Facetten der Diktaturen angemahnt.
In jüngerer Zeit mehrten sich die Stimmen, die die Einbettung der DDR-Forschung in eine Vergleichsdimension fordern. Das könnte in zwei Richtungen geschehen: die Geschichte der DDR sollte zum einen in der Gegenüberstellung mit den übrigen ehemals "sozialistischen Bruderländern", zum anderen in ihrer beständigen und unausweichlichen Konkurrenz zur Bundesrepublik.
Schon das macht deutlich, dass der von Günther Heydemann und Heinrich Oberreuter herausgegebene Band in eine nicht widerspruchsfreie, aber gleichwohl nicht gerade dicht besetzte Forschungslandschaft fällt. Der Dimension des Problems angemessen, setzen sich einleitend Heydemann und Detlev Schmiechen-Ackermann intensiv mit theoretischen, forschungspraktischen und methodischen Fragen komparativer Diktaturforschung auseinander. Sie plädieren für eine Verzahnung der totalitären Intentionen der Träger der Diktatur und der jeweiligen lebensweltlichen Praxis, der Herrschaftsrealität, also zum beständigen Blick auf die "Grenzen der Diktatur". Mit Rückgriff auf Denk-Traditionen Hannah Arendts und Sigmund Neumanns werden kenntnisreich und souverän die Argumente für und wider eine vergleichende Betrachtung von NS-Regime und DDR erörtert.
Die 18 folgenden Einzelbeiträge handeln ein breites Spektrum ab: von Herrschaftserringung und -alltag, von Justiz und Geheimdiensten, Erziehung und Hochschulen, Betrieben und Gewerkschaften, Kirchen sowie Medien und Öffentlichkeit. Ein derartiger Sammelband, der methodisch und systematisch Neuland beschreitet, kann naturgemäß das schwierige und weite Feld der Diktaturen in Deutschland nicht annähernd flächendeckend oder großräumig abdecken. Dass Einzeluntersuchungen zu Mikro- und Meso-Ebene dominieren, kennzeichnet letztlich auch den Forschungsstand.
Einige Aufsätze widmen sich größeren Politikfeldern, die erst in jüngerer Zeit Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden haben. Aus der Sicht des Rezensenten zählt zu den fraglos weiterführenden Beiträgen Schmiechen-Ackermanns Untersuchung zu den beiden Staatsparteien und ihren Integrations- und Pazifizierungsleistungen vor Ort. Als Träger der Diktatur nach den "Machtergreifungen" haben sie bislang verblüffend selten die Neugier der Forscher geweckt. Gleiches gilt für Rüdiger Hachtmanns knappe Analyse von Deutscher Arbeits-Front und FDGB. Beide - nominell oder faktisch - Zwangsorganisationen der Arbeitenden und damit die jeweils größten "Massenorganisationen" zeigen vielfältige Parallelen, die sich im Zeitverlauf jedoch zu völlig konträren Bildern auseinander entwickelten.
Hermann Wentker verweist in seiner Untersuchung der Justiz auf die unterschiedlichen Dimensionen des "Maßnahmestaates" sowie auf die Zwangslagen für die DDR als "importierter Diktatur" (Hans Mommsen). Thomas Großbölting hebt die unterschiedlichen Konsequenzen und Handlungszwänge beider Diktaturen gegenüber dem Bürgertum hervor - wiewohl beide sich programmatisch-politisch explizit als antibürgerlich verstanden.
Wie fruchtbar ein zeitlich asynchroner Vergleich von einander ablösenden Diktaturen sein kann, verdeutlicht die von Ruth Birn und Jens Gieseke vorgelegte Studie zur MfS-Generalität und den Karrieren in NS-Sicherheitsapparaten. Dass sich die MfS-Eliten an sowjetischen Mustern orientierten, bedarf keiner weiteren Erwähnung. Verblüffend ist indes, wie weit beide Apparate die totale Anpassung an ein vorgegebenes soziales Ideal erwarteten und erzwangen.
Aber auch kleinflächigere Themen unterstreichen die Ergiebigkeit des komparatistischen Ansatzes. Annette Leos Beitrag über das KZ Sachsenhausen und das ihm an gleicher Stelle folgende sowjetische Speziallager wird vielleicht erneut Debatten über die Zulässigkeit des Vergleichs beider Lagersysteme auslösen. Fraglos ist aber wichtig, den immer noch ungleichen Informationsstand anzugleichen. Ein klassisches Feld greift Gerd Hacke auf: das Schicksal der von beiden Diktaturen verfolgten Zeugen Jehovas.
Insgesamt liegt hier ein aspekte- und facettenreicher, abwägend urteilender Band vor, der hoffentlich zu vielen Folgeuntersuchungen Anlass geben wird. Einzig eine Art Bilanz oder einen Ausblick auf weitere Forschungsperspektiven hätte man sich am Schluss noch gewünscht. Werner Müller
Günther Heydemann, Heinrich Oberreuter (Hrsg.)
Diktaturen in Deutschland - Vergleichsaspekte. Strukturen, Institutionen und Verhaltensweisen.
Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische
Bildung, Band 398. Bonn 2004; 589 Seiten.
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