Zwei Männer sammeln Daten, zunächst Wetterdaten, später historische. Damit pflegen die beiden pensionierten Meteorologen ein ausgefallenes Hobby, das bald mehr als ein Hobby zu werden droht. Zum Missvergnügen ihrer lebenslustigeren Freundin Ida recherchieren der Ich-Erzähler und sein Freund Awa Lebensläufe von Menschen, die zu einem Anderen geworden sind, weil sich die Verhältnisse, in denen sie leben, änderten.
Diese Lebensgeschichten - die Meteorologen sprechen nur von "Fällen" - sind auf vielfältige und unterschiedliche Weise mit den großen Brüchen deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts verknüpft. Vom Kaiserreich und einem geschäftstüchtigen Forschungsreisenden bis zur schillernden Figur eines bekannten Politikers der bundesrepublikanischen Gegenwart wird von Menschen berichtet, die mit dem Wechsel bestehender politischer Verhältnisse unerhört geschickt und anpassungsfähig ihre Identität wechseln.
Dabei lernt der Leser ebenso einen Konstantin von Tischendorf, den Entdecker des Cotex Sonaiticus kennen wie die wahre Geschichte des Stefan Jerzy Zweig, jenes Jungen, der als Buchenwald-Kind in Bruno Apitz' Roman "Nackt unter Wölfen" weltweit bekannt geworden war. An zentraler Stelle steht die gut recherchierte Laufbahn eines deutschen Germanisten, der vor und nach 1945 Karriere zu machen verstand.
Bei der Etablierung des Nazi-Ideologen in der jungen Bundesrepublik wirkte übrigens auch jener SS-Mann Rössner mit, der später selbst auf noch absurdere Weise als Lektor Hannah Ahrendts in Erscheinung treten sollte.
Schädlichs Sprache fließt angenehm entspannt; sie ist eine klare und einfache Prosa. Das Ende des Romans jedoch erscheint unbefriedigend. Der Erzähler bricht - überdrüssig der ewigen Recherche und resigniert von den sich wiederholenden Geschichten - zu einer Reise ins ferne Australien auf. Dort trifft er auf Menschen, die ihn in seiner Weltflucht zu bestätigen scheinen. Denn die Geschichten wiederholen sich auch in dem fernen Kontinent.
Geschichte wiederholt sich, weil der Mensch sich nicht wirklich ändert. Herr Katz sagt: "Deshalb lebe ich in Melbourne." Herr Katz, ein Überlebender des Holocaust, kann so etwas sagen und einfach in Melbourne leben. Unserem Meteorologen dürfte dies auf Dauer jedoch schwer fallen. Denn er spürt - und dies teilt er unzweifelhaft mit seinem Autor - Verantwortlichkeit gegenüber der Geschichte, eine Verpflichtung, sich mit ihr auseinander zu setzen.
Der Protagonist von "Anders" hat offenbar resigniert, nicht aber der Autor Hans Joachim Schädlich. Sein Buch teilt auf spannende und gut lesbare Weise eine beeindruckende Vielfalt an zeitgeschichtlichen Fakten mit. Wenn politisches Engagement in unserer Gesellschaft zunehmend zu den Ausnahmeerscheinungen gehört, dann ist dieses Buch als Anregung zur Diskussion über Sinn und Notwendigkeit eines solchen Engagements sehr zu empfehlen. Jörg Jacob
Hans Joachim Schädlich
Anders. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2003; 219 S., 19,90 Euro