Es müsse der Marktplatz für eine offene Debatte aller Meinungen in Europa sein. Man müsse dem Bürger zeigen, worum es in der Verfassung gehe, was sie aussage und für die Zukunft eines jeden Einzelnen bedeute. Eine Vermischung mit innenpolitischen Themen der Mitgliedstaaten müsse vermieden werden. Der Präsident plädierte dafür, noch vor 2005 einen entsprechenden Text zu verabschieden.
Zu der zum Jahresende anstehenden Entscheidung, ob mit der Türkei schon bald Aufnahmeverhandlungen aufgenommen werden sollen, regte Borrell an, einen eigenen Bericht des Parlaments als zusätzliche Entscheidungshilfe zu erarbeiten. Auch wenn die Abgeordneten bei dem vom Gipfel zu treffenden Beschluss unmittelbar keine Rolle spielten, gäben Debatten über derart grundsätzliche Weichenstellungen in der europäischen Politik dem Parlament erst seine Daseinsberechtigung. Deshalb sollte das Parlament auch rechtzeitig vor der Entscheidung seine eigene Stellungnahme beschließen. Vorher, am 23. September, werde der türkische Premierminister Erdogan vom erweiterten Präsidium des Europaparlaments, dem auch die Fraktionsvorsitzenden angehören, zu einem Meinungsaustausch empfangen.
Unabhängig davon, wie die Entscheidung zur Türkei ausfalle, mahnte Borrell eine neue Politik der fairen und engen Partnerschaft gegenüber seinen Nachbarn und insbesondere gegenüber den islamischen Staaten an. Die Qualität dieser Politik müsse sich auch darin zeigen, wie gut die über zehn Millionen islamischen Bürger in der Union in die europäische Gesellschaft integriert würden. Hier liege eine der wichtigsten Herausforderungen für Europa, das seine Grenzen nicht in Abhängigkeit vom Krieg der Zivilisationen ziehen dürfe, den manche herauf zu beschwören versuchten.
Ebenso wie EVP-Fraktionschef Hans-Gert Pöttering, der von einer Spaltung seiner Gruppe in dieser Frage sprach, räumte auch der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion, Hans-Martin Schulz, unterschiedliche Auffassungen zur Aufnahme der Türkei in der SPE ein. Es müsse jedoch auch berücksichtigt werden, dass die EU nicht 40 Jahre lang Versprechungen machen und dann im letzten Moment neue Bedingungen stellen könne.
Als nächstliegende Aufgabe, so kündigte Borrell an, soll das Parlament bei der Einsetzung der neuen EU-Kommission zur Verdeutlichung klarer Positionsbestimmungen in der europäischen Politik beitragen und mit den neuen Kommissaren eine Debatte über die großen Leitlinien für die Zukunft führen. Bei den in Kürze beginnenden Anhörungen der 25 designierten Kommissare müsse auch gegenüber der Öffentlichkeit klar werden, wie die Kommission verschiedene Probleme anzugehen gedenken. Ein einfaches Durchwinken dürfe es nicht geben, vielmehr sollten die Anhörungen zu einem großen Moment der parlamentarischen Demokratie werden.
Dazu erläuterte Pöttering als Vorsitzender der christdemokratisch-konservativen EVP-Fraktion in der anschließenden Debatte einen Zehn-Punkte-Katalog, mit dessen Hilfe die neuen Kommissare und deren Aussagen beurteilt werden sollen. Dass der designierte Kommissionspräsident José Manuel Barroso aus dem bürgerlichen Lager stamme, bedeute nicht, dass seine Fraktion der Kommission in Vasallentreue nachlaufe. Die EVP und das Gesamtparlament müssten sich vielmehr in einer Doppelrolle sehen: einerseits als Verbündete der Kommission, andererseits als deren Kontrolleure. Zu den wichtigsten Forderungen des Beurteilungskatalogs gehört die Anwesenheit eines Kommissionsvertreters während den Sitzungen des Parlaments.
Pöttering kündigte Gespräche mit den Vorsitzenden der anderen Fraktionen mit dem Ziel an, eine gemeinsame Entschließung zur Beurteilung der Kommission zu erreichen.