Russen sind für mich nicht mehr fremde Leute, sondern Anna, Sergej und Alina. Durch die Jugendlichen, die ich kennen gelernt habe, hat für mich auch Russland eine konkrete Bedeutung bekommen", sagt Maria Graul. Die 21-Jährige, die Kulturwissenschaften in Frankfurt/Oder studiert, hat bereits reichlich Osteuropa-Erfahrung. Sie besuchte ein Jahr lang die Universität in Warschau. Danach gab sie gemeinsam mit Kommilitonen aus Tschechien und Slowenien eine Zeitung für Studenten heraus, die in fünf Ländern zugleich erschien. Aber das Riesenreich zwischen Ostsee und Pazifik sagte ihr bislang wenig.
Von einem ähnlichen Aha-Erlebnis erzählt die Russin Galina Kondratjewa, die zurzeit ein Praktikum bei der Nachrichtenagentur dpa absolviert: "Meine Vorstellung von Russland hat sich hier durch Gespräche mit deutschen Kollegen sehr verändert. Ich wurde als Kind noch im Geist der kommunistischen Ideologie erzogen; nun sehe ich Russland wesentlich kritischer." Diese Ernüchterung schreckt die 23-jährige Germanistin aus dem ostsibirischen Chabarowsk nicht ab. Demnächst wird sie als Tutorin der Robert-Bosch-Stiftung in Köln arbeiten.
Marias und Galinas Einsichten kommen auch ihren Altersgenossen zugute: Beide nahmen an den dritten "Deutsch-russischen Jugendtagen" vom 8. bis 10. September in Hamburg teil. Auf ihnen sammelten etwa 50 Jugendliche Ideen, wie sich der Schüler- und Studentenaustausch zwischen beiden Ländern fördern ließe. Sozusagen als Expertengremium der Betroffenen: Denn der gleichzeitig in der Hansestadt veranstaltete "Petersburger Dialog" stand in diesem Jahr ganz im Zeichen der Jugend. Seit 2000 versammelt die Konferenz alljährlich rund 150 hochrangige Vertreter der deutschen und russischen Zivilgesellschaft zu einem offenen Gesprächsforum. Diesmal wollte es seinen bislang größten Erfolg feiern: Den Abschluss eines Regierungsabkommens über jugendpolitische Zusammenarbeit, das der "Dialog" vor zwei Jahren angeregt hatte. Seine Unterzeichnung vereitelte indes das tragische Ende des Geiseldramas in Beslan. Russlands Staatspräsident Wladimir Putin sagte seinen angekündigten Besuch ebenso wie Bundeskanzler Gerhard Schröder kurzfristig ab. Doch der Inhalt der Vereinbarung bleibt davon unberührt; sie soll nun im November besiegelt werden. Dennoch waren wichtige Vertreter beider Länder anwesend, wie der russische Kinderarzt und Vermittler im Geiseldrama von Beslan, Leonid Roschal, Russlands ehemaliger Präsident Michail Gorbatschow und auf deutscher Seite unter anderem der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU Fraktion, Wolfgang Schäuble.
Nach dem Vorbild des 1963 gegründeten deutsch-französischen Jugendwerks und der seit einem Jahrzehnt bestehenden deutsch-polnischen Einrichtung werden zwei Büros in Deutschland und Russland eröffnet, die ab 2005 für den beidseitigen Jugendaustausch werben und ihn koordinieren sollen. Auf deutscher Seite handelt es sich um eine "public private partnership": Beteiligt sind nicht nur die zuständigen Ministerien, sondern auch der "Dialog", das ihn organisierende Deutsch-russische Forum, der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft und die Bosch-Stiftung. Sie sichert zudem mit einem einstelligen Millionenbetrag die Anschubfinanzierung des deutschen Büros, damit es seine Tätigkeit bald aufnehmen kann.
Das ist auch nötig, da die bilateralen Jugendkontakte in jüngster Zeit zu einer ziemlich einseitigen Angelegenheit geworden sind. Während auf russischer Seite der Andrang auf Stipendien und Praktika in Deutschland ungebrochen ist, hat das Interesse deutscher Heranwachsender an Russland stark nachgelassen. 1992 lernten hierzulande noch mehr als 560.000 Schüler Russisch; bis zum Schuljahr 2002/03 sank ihre Zahl um drei Viertel auf nur noch 145.000. Mangels Nachfrage werden Slawistik-Fakultäten entweder wie an der Universität Münster geschlossen oder wie in Baden-Württemberg zu einem einzigen Studiengang im gesamten Bundesland zusammengelegt. Derweil stagniert die Zahl der deutschen Schüler, die ein Austauschjahr in Russland verbringen, bei rund 4.000 - trotz zahlreicher Vereine und anderer Initiativen, die einen derartigen Aufenthalt organisieren.
Zum großen Bedauern der deutschen Wirtschaft. Die Bundesrepublik ist mittlerweile der wichtigste westliche Handelspartner Russlands: Allein im ersten Halbjahr 2004 stiegen die deutschen Exporte um fast 25 Prozent. Doch dringend benötigte Fachkräfte mit Russischkenntnissen werden allmählich rar; nach der Euphorie der Ära Gorbatschow wächst wieder die Entfremdung zwischen beiden Ländern. Dem könnte ein lebhafter Jugendaustausch langfristig abhelfen. Um ihn in Gang zu bringen, bedarf es aber nicht nur der institutionellen Voraussetzungen, die nun geschaffen werden, sondern auch der richtigen Rahmenbedingungen.
Darauf zielten die meisten Verbesserungsvorschläge der Teilnehmer an den "Jugendtagen" ab. Insbesondere die russischen Einreiseformalitäten sind so schikanös bürokratisch wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Ohne offizielle Einladung stellt das Konsulat kein Visum aus; überdies muss sich jeder Ausländer binnen drei Tagen bei der Polizei registrieren lassen. Die Jugendlichen forderten daher, die Ende 2003 zwischen Moskau und Berlin vereinbarten Erleichterungen für Wissenschaftler und Sportler auch auf ihre Altersgruppe auszudehnen. Außerdem sollte der Kreml ausländischen gemeinnützigen Organisationen, die in Russland aktiv sind, ihre Arbeit erleichtern: Seit 2002 unterliegen sie wie kommerzielle Firmen der Steuerpflicht. Es ist also noch viel guter Wille nötig, um die deutsch-russische Völkerfreundschaft weiter voranzubringen - nicht nur unter deutschen Jugendlichen, sondern auch bei den russischen Machthabern. Oliver Heilwagen