Die Debatte war ein Vorgeschmack dessen, was die interfraktionelle "Initiative Parlamentsreform" dem Plenum am 20. September 1984 als "Entschließungsantrag zur Stellung und Arbeit des Bundestages" vorlegte. Sie forderte darin "eine lebendigere und offenere Gestaltung von Plenardebatten", "ein verstärktes und wirksameres Kontrollrecht des Parlaments, zum Beispiel durch eine Verbesserung des Frage- und Informationsrechtes", eine aktuellere Befassung des Parlaments mit Kabinettsentscheidungen und weitere Maßnahmen "zur Stärkung des Ansehens des Parlaments und seiner Abgeordneten". Wie gefordert, ging es also recht lebhaft zu an diesem Tag in Bonn.
Auslöser für eine grundsätzliche Kritik am politischen System war die Parteispendenaffäre, die die Bundesrepublik in jenem Jahr erschütterte. CDU, CSU, FDP und SPD hatten zum Teil auf Umwegen über gemeinnützige Organisationen unversteuerte Zuwendungen entgegengenommen, ohne die Namen der - großzügigen - Spender zu veröffentlichen. Einer von ihnen, der Flick-Konzern, spielte die Hauptrolle in diesem Spiel, das schließlich Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) zum Amtsverzicht zwang. Wegen Verdachts der Bestechung zugunsten enormer Steuervorteile für den Konzern trat er im Juni 1984 zurück. Die Öffentlichkeit forderte nach diesem Skandal mehr Transparenz der Politik und beklagte eine mangelnde Bürgernähe der Parlamentarier. Auch deshalb kam es im September 1984 zu der ersten großen, lebhaft geführten Debatte über das Selbstverständnis des Bundestages.
Eröffnet wurde sie vom Bundestagspräsidenten Rainer Barzel (CDU), der seiner Rede die Feststellung voranschickte: "Wir haben hier, meine Damen und Herren, nichts zu verbergen." Gerade deshalb sollte die Arbeit der Abgeordneten transparenter gemacht werden. Nur so könnten in der Bevölkerung verbreitete Vorurteile abgebaut werden, sagte Barzel. Er bezog sich direkt auf die häufig geäußerte Kritik an leeren Stuhlreihen oder zeitungslesenden Abgeordneten während der Debatten. "Die Arbeit, die wir hier leisten", stehe außerhalb des Erfahrungsschatzes der Mehrheit der Bevölkerung. "Reisen ist hier Pflicht, Zeitungslesen Dienst, unerlässliche Arbeit wie Briefeschreiben, Telefonieren, Kontaktpflege, Sprechstunden, Diskussionen, Interviews, Aktenstudium, Berichte schreiben. Das meiste davon bleibt dem Außenstehenden verborgen." Die Forderung nach lebendigeren Debatten unterstützte auch er - mit konkreten Vorschlägen: "Wir alle - und da schließe ich mich nicht aus - können, glaube ich, kürzer reden."
Insgesamt 45 Abgeordnete ergriffen während dieser Debatte für zehn Minuten das Wort, natürlich auch die Sprecherin der interfraktionellen Gruppe, Hildegard Hamm-Brücher (FDP). Sie begründete noch einmal den Entschließungsantrag und die darin enthaltene Forderung nach einer "Ad-hoc-Kommission Parlamentsreform". Neben der Sorge um die Funktions- fähigkeit des Parlaments spielte auch der "Entfremdungsprozess" zwischen Verfassungsauftrag und parlamentarischer Wirklichkeit, "zwischen Wähler und Gewählten" eine entscheidende Rolle, so die Politikerin.
Etwas drastischer drückte es die Grünen-Abgeordnete Christa Nickels aus: "Das hier ist ein Raumschiff Bonn", zu dem die Bürgerinnen und Bürger keinen wirklichen Zugang hätten. Außerdem seien die Bundestagsdebatten nicht deshalb "so langweilig, weil die Reden so fad sind", sondern weil die Abgeordneten "hier nichts zu sagen haben". Sie unterstellte den meisten von ihnen ein "imperatives Mandat", das sie fremdbestimmt im Sinne verschieder Lobbygruppen handeln ließe.
Mit großer Mehrheit billigte der Bundestag schließlich den Antrag, und bereits am 2. Oktober 1984 fand die konstituierende Sitzung der Ad-hoc-Kommission statt. Im Sommer 1985 legte sie ihren Bericht vor, der umfangreiche Reformvorschläge präsentierte, von denen zahlreiche im Laufe der kommenden Jahre umgesetzt wurden: Die Abgeordneten erhielten unter anderem das Recht, während einer Debatte nicht nur Zwischenfragen zu stellen, sondern auch mit Kurzinterventionen zu Wort zu kommen. Es wurde eine Regierungsbefragung eingeführt, in der die Exekutive den Bundestag unmittelbar im Anschluss über die Ergebnisse der Kabinettssitzungen unterrichtet.
Die Reform der Parlamentsarbeit ist jedoch eine Daueraufgabe, die in vielen Schritten vollzogen wurde und wird. Erst 1995 wurden zum Beispiel die so genannten Kernzeit-Debatten eingeführt, die jeweils Donnerstags stattfinden, wo keine Sitzungen anderer Gremien genehmigt sind. Claudia Heine