So ist weithin unbekannt geblieben, dass das amerikanische Kriegsministerium nach dem Zweiten Weltkrieg Dutzende von "Kulturbeauftragten" in die amerikanische Besatzungszone schickte, die nach der Methode des Meinungsforschers Gallup die Stimmung des besiegten Volkes ergründen sollten. Der Schriftsteller, Übersetzer und Journalist James Stern, der in England geboren wurde, vor der Nazizeit in Deutschland lebte und nach Amerika emigrierte, war einer dieser Beauftragten, die in US-Uniformen gesteckt und nach Deutschland geschickt wurden.
Hier genossen sie alle Privilegien der Besatzungsmacht, wurden aber zugleich direkt mit dem unbeschreiblichen Elend der Besiegten konfrontiert. Stern sah dieser Reise in ein bekanntes und doch unbekanntes Land mit einer Mischung aus "Grauen und Faszination" entgegen, in die sich Neugierde und Ratlosigkeit mischten. Er und seine Gruppe wurden in Bad Homburg ausgesetzt und begaben sich, begleitet von einem amerikanischen Offizier, auf die Reise quer durch die amerikanische Zone. Anhand von Fragebögen hatten sie willkürlich Leute auf der Straße oder im Cafe anzusprechen und deren Antworten zu notieren. Stern suchte zudem nach Leuten, mit denen er vor der NS-Zeit Kontakt hatte.
Der Einfachheit halber druckt der Verlag in einem Manuskript, das eine Mischung zwischen Erfahrungsbericht, Reiseschilderung und Dokumentation darstellt, einige Fragebögen ab. Das verleiht dem Buch etwas Authentisches.
Der Autor schildert in dem Bericht, der zum ersten Mal 1947 in Amerika gedruckt wurde, das Misstrauen, das zwischen Besatzern und Besetzten herrschte. Die Deutschen hatten sich die Befreiung angenehmer vorgestellt, als sie war, und die Amerikaner betrachteten die Deutschen keineswegs allesamt als Nazigegner, wie sie sich gern darstellten.
Aus damaliger Sicht, auch das schildert Stern, waren die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse ein Reinfall. Die Mehrheit der Deutschen sah in ihnen nicht einen fairen demokratischen Prozess; in ihren Augen war es ein Militärtribunal, das Naziverbrecher nach einem vorab gefassten Urteil abstrafte.
Diesen Eindruck bestätigt das andere Buch über die "Stunde Null" mit Berichten der Journalisten Richard Tüngel und Hans Rudolf Berndorff aus den Nachkriegsjahren. Der 1893 geborene Tüngel war bis 1933 Oberbaudirektor beim Hamburger Senat und wurde dann von den Nationalsozialisten entlassen. Als die Engländer in Hamburg einzogen, glaubte er, als Betroffener das Recht in Anspruch nehmen zu können, von den Besatzungsmächten gleichberechtigt am Wiederaufbau der Demokratie beteiligt zu werden.
Seine erste Erfahrung mit einem Engländer war, dass der ihm die Armbanduhr abnahm. Die zweite war nicht viel besser, da wollte ihn ein britischer Offizier als Hilfskraft bei der Filmzensur anstellen. Die dritte war vollends deprimierend: Auf eine Denkschrift, wie frühere Nazis behandelt und bestraft werden sollten, die er mit anderen Verfolgten ausgearbeitet hatte, erhielt er drei Jahre später, als die Entnazifizierung abgeschlossen war, eine amtliche Bestätigung darüber, dass das Schreiben eingegangen war.
Was sich anfangs für Tüngel als Hindernis darstellte, erwies sich auf lange Sicht als Vorteil. Er war frei, um mit einigen Freunden und Journalisten sowie mit Gerd Bucerius die "Zeit" zu gründen. Die Engländer waren nicht gerade hilfreich - sie wollten eine eigene Zeitung herausbringen -, aber sie hinderten die Zeitungsmacher auch nicht, und so erschien bereits Anfang 1946 die "Zeit", bei der Tüngel zuerst Chef des Feuilletons und später Chefredakteur wurde.
An ausgewiesenen Autoren, die für das Blatt schrieben, hatte er keinen Mangel: Ivo Hauptmann, Peter Bamm, Jürgen Schüddekopf und Ernst Schnabel - von denen einige später den damaligen NWDR, den Sender für die britische Zone in Hamburg - aus der Taufe hoben - arbeiteten für ihn.
Über die Gründung des Blattes erzählt Tüngel folgende Anekdote: Als er zur ersten Redaktionssitzung ging, standen die Menschen in Viererreihen mehrere Häuserblocks weit vor dem Pressehaus Schlange. Bei Nachfragen stellte sich heraus, dass sich vor allem Geschäftsleute angestellt hatten, die Einwickelpapier brauchten. Es gab kein Papier, und die Lizenznehmer der "Zeit" bekamen von den Engländern eine Sonderration. Tüngel verfügte, dass Abonnements der "Zeit" schriftlich beantragt werden mussten.
Wie ein Supplement dazu lesen sich die Beiträge des gleichaltrigen Hans Rudolf Berndorff. Die Reportagen der beiden Journalisten, ein Nachdruck aus dem Jahr 1958, werden in jeweils kurzen Texten abwechselnd dargestellt. Berndorff beschreibt die großen KZ-Prozesse, vor allem den Nürnberger Kriegsverbrecherprozess. Wer bisher nur die Protokolle dieser Prozesse gelesen hat, in denen die Schandtaten der NS-Schergen innerhalb und außerhalb der Konzentrationslager geschildert werden, der erfährt von Berndorff viel über das, was hinter den Kulissen geschah.
Die Alliierten waren über das weitere Vorgehen gespalten, Winston Churchill war gegen diesen Prozess, und Stalin wurde von der Sorge umgetrieben, auch die russischen Kriegsverbrechen könnten zur Sprache gebracht werden. Dennoch waren die Alliierten wieder in einem Punkt einig, und das war, den deutschen Anwälten und Journalisten die Verteidigung und die Berichterstattung so schwer wie möglich zu machen. Dass sie sich dennoch durchsetzten, verdankten sie ihrem ungeheuren Selbstbehauptungstrieb.
James Stern
Die unsichtbaren Trümmer, Reise im besetzten Deutschland.
Eichborn-Verlag Frankfurt/M. 2004; 400 S., 24,- Euro
Richard Tüngel und Hans Rudolf Berndorff
Stunde Null.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2004; 437 S., 24,90 Euro
Klaus Dreher war viele Jahre Bonner Büroleiter der "Süddeutschen Zeitung".