Rund eineinhalb Jahrtausende arabische Literaturgeschichte von der vorislamischen Zeit bis zur Gegenwart in nur einen einzigen Band zu fassen, ist bislang noch niemand gelungen. Wiebke Walthers Buch ist neben den voluminösen, mehrbändigen Standardwerken in deutscher Sprache der erste Versuch. Am großartigsten an diesem Werk ist, dass über ausgewählte Bespiele intensive und dicht präsentierte Einblicke gegeben werden, die den Überblick über die Entwicklung mündlich und schriftlich überlieferter arabische Texte sehr persönlich und außerordentlich lebendig gestalten.
Darüber hinaus vermittelt die in Tübingen Arabistik und Islamkunde lehrende Professorin auf hohem Niveau die religiösen und politischen Grundlagen, die zum Verständnis der Literatur des arabischen, islamisch-geprägten Kulturraumes notwendig sind, wie zum Beispiel die Zusammensetzung der Arabischen Sprache oder den Entstehungskontext des Korans, in dem sich für die Muslime Gottes Wort manifestiert und der deswegen seit Generationen als maßgebendes grammatikalisches Vorbild arabischer Texte gilt.
Der interessierte Leser kann sich nicht nur über die unterschiedlichen Genres der arabischen Literatur, über Werke und Namen der Kultautoren dieser Zeit informieren, sondern er erfährt darüber hinaus, was die Autoren im vorislamischen, mittelalterlichen und modernen islamisch geprägten Kulturraum bewegte, sich im wohlformuliertem Arabisch anderen mitzuteilen. Vermittelt wird, unter welchen Arbeitsbedingungen Dichter und Schriftsteller sich ihrer Berufung widmeten, wer ihre Zielgruppe, Leser und Förderer waren, wie sie sich gegenseitig unterstützt und zuweilen auch aufgrund von Konkurrenz- und Karrierestreben einander das Leben erschwert haben.
Die am weitesten in die Vergangenheit zurückreichende Literatur der Tmæhiliya - die Epoche der Unwissenheit -, wie die vorislamische Zeit von arabischen Historikern bezeichnet wird, stammt vermutlich aus dem frühen fünften Jahrhundert. Die altarabische Dichtung und Prosatexte der Beduinen wurden über Generationen mündlich überliefert und erst im achten und neunten Jahrhundert schriftlich fixiert. Diese Texte hatte vorrangig soziale Funktionen, so zum Beispiel die Definition kollektiver Verhaltensnormen innerhalb eines Stammes.
Sie dienten aber auch als Ausdruckmittel oder Kompensation unerfüllter Sehnsüchte nach Überschreitung solcher Grenzen. Diese kommen in den Beschreibungen der ‚atlæl', der menschlichen Spuren, zum Ausdruck, welche die Beduinen auf der Suche nach Weideplätzen in den Steppen und Wüsten hinterließen. Mittelpunkt dieser Dichtungen bildeten die Oasen und Wasserplätze, an denen die verschiedenen Stämme aufeinander trafen.
Nicht selten scheinen solche zufälligen Begegnungen, Gelegenheit zu episodenhaften, emotional nachhaltigen Begegnungen zwischen Frauen und Männern gegeben zu haben, die mit dem Aufbruch des einen oder anderen Stammes, ihr meist als jäh und schicksalhaftes empfundenes und derart beschriebenes Ende fanden. Dass solchen Romanzen selten ein happy end beschieden war, lässt die Struktur dieser Gedichte vermuten, die so angelegt sind, dass über die Verehrung der Angebeteten auf die Beschreibung der Reittiere der nomadischen Dichter übergeleitet wird.
Aus der detailreichen und poetischen Darstellung der Kamele (seltener der Pferde), deren Schönheit, Stärke, Schnelligkeit und Ausdauer mit anderen Tieren der Wüste verglichen wurde, scheinen die Liebeskranken Ablenkung, Trost und neuen Lebensmut geschöpft zu haben, so dass die Klagegedichte in Lobpreisungen der Vorteile des eigenen Stammes gegenüber anderen schließlich doch eine positive Wendung nahmen.
Während persönlich erlebte Ereignisse in vorislamischer Zeit meist in lyrischen Strukturen verarbeitet sind, wurden historische Gegebenheiten in Prosa erinnert und von Generation zu Generation weitergegeben. Insbesondere unter den Beduinen des nördlichen Innerarabiens wurden die Kämpfe und Auseinandersetzungen, Raub- und Beutezüge in literarischen Erzählungen konserviert. Die Dichter, die solche Ereignisse durch kunstvolle literarische Konstruktionen aufwerteten, galten sozusagen als Sprecher eines Stammes - als diejenigen, die für den Zusammenhalt der Stammesgemeinschaft maßgebenden Werte- und Normvorstellungen auch nach außen vertraten.
Im Mittelpunkt des Buches steht das Genre ‚adab'-Literatur. Die mit Lyrik durchsetzten Prosatexte waren seit dem achten und bis zum 19. Jahrhundert als Bildungskanon und Grundlage der gepflegten höfischen Unterhaltung konzipiert. Die perfekte und poetisch gewandte Nutzung des Arabischen war das Bildungsideal dieser Zeit, an der sich auch die mawæli - arab. Klienten (eines fremden Stammes) -, also die Bewohner des nach dem Tode des Propheten Muhammad rasch expandierenden arabischen Reiches orientierten.
Mit der Aneignung arabischer Sprachkenntnisse in Wort und Schrift waren berufliche Chancen verbunden, welche die mawæli zum Beispiel als Hofsekretäre oder Mediatoren in offizieller Funktion der Vermittlung zwischen Herrscher und der persischen, ägyptischen, westafrikanischen, spanischen und ab dem neunten Jahrhundert auch der sizilianischen Bevölkerung als Chance nutzten.
Nach der Arabisierung der höfischen Verwaltung im ersten Drittel des achten Jahrhunderts begannen persische Hofsekretäre mit der Übersetzung sozialdidaktischer und schöngeistiger Werke aus ihren Muttersprachen ins Arabische. Ihrem Beispiel folgten mawæli anderer Nationalitäten aber auch Christen, Juden und Manichäer persischer, syrischer und griechischer Herkunft.
Der Einfluss der mawæli wirkte sich auch auf das Bildungsideal aus, das neben dem altarabischen Erbe und den zu dieser Zeit hochmodernen Vorgaben des Korans nun auch alt- und neutestamentliche Erzähltraditionen sowie persische und indische Erinnerungskultur in vielseitigen literarischen Formen propagierte, darüber hinaus auch Philosophie und Ethik der Griechen, die Wiebke Walther als "die Humanitas des mittelalterlichen Islam in arabischer Sprache" bezeichnet.
Der Moderne der arabischen Literatur, der Neuentwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert, ersten Romanen und der Herausbildung einer an alte Traditionen orientierten modernen Erzählprosa räumt die Autorin leider nur noch ein kaum 20 Seiten umfassendes Kapitel ein. Auch diese kompetente und lebendig dargestellte Abhandlung ist eher komprimiert als dünn zu bezeichnen, erreicht aber nicht mehr die Intensität der Beschreibung vorangehender Epochen.
Die "Kleine Geschichte der arabischen Literatur" ist eindeutig als ein auf zwei Bände ausgerichteter Überblick angelegt. Die Autorin kündigt denn auch eine ausschließlich auf die Moderne ausgerichtete Fortsetzung an. Zwar ist noch ungewiss, wo und wann dieses Folgewerk erscheinen wird, dennoch tröstet dieses Versprechen den Leser über das jähe Ende der bereichernden und emotional nachhaltigen Begegnung mit der arabischen Literatur. Angela Grünert
Wiebke Walter
Kleine Geschichte der arabischen Literatur.
Von der vorislamischen Zeit bis zur Gegenwart.
Verlag C.H. Beck, München 2004; 336 S., 29,- Euro.
Angela Grünert ist Islamwissenschaftlerin und freie Journalistin; sie lebt in Berlin.