In der Begründung der Jury heißt es, sie ehre einen Schriftsteller, der "als weithin vernehmbare Stimme der Nachgeborenen die Zerstörung des Menschen durch Terror und Gewalt und seine Wiederauf-erstehung in Trauer und Ironie gestaltet". In "Harmonia Caelestis" und der dazugehörigen "Verbesserten Ausgabe" habe der 1950 in Budapest geborene Esterházy "die Last der Wahrheit auf sich genommen" und die "Verstrickungen" der Menschen in "gedächtnisfähige Bilder" verwandelt.
Mit seinem literarischen Debüt, der Erzählung "Francsikó und Pinta" (1976), legte Péter Esterházy den Grundstein für einen Ruhm, der im Jahr 2000 plötzlich zu einer schweren Hypothek werden sollte. Gerade hatte er sein Hauptwerk "Harmonia Caelestis" abgeschlossen, eine 900 Seiten starke Familienchronik und Denkmal für seinen (kurz vorher gestorbenen) Vater, als er entdeckte, dass dieser für den ungarischen Geheimdienst gespitzelt hat. Und das mehr als 20 Jahre mit wachsendem Eifer. Mátyás Esterházy, Nachfahre eines der ältesten ungarischen Adelsgeschlechter, nach Enteignung und Zwangsumsiedelung 1948 Parkettleger und Übersetzer, ein Spitzel? Wie reagiert darauf ein Autor, der seit Jahrzehnten als der Vertreter der ungarischen postmodernen Literatur gefeiert wird, als Sprachkünstler, der es versteht, alles Erzählte mit Ironie zu relativieren, der Realität und Fiktion in einer Selbstverständlichkeit mischt, die vor nichts halt macht: vor der Zeitgeschichte ebenso wenig wie vor der Familiengeschichte, weder vor den Texten anderer Autoren, noch vor historischen Dokumenten?
Vor der politischen Wende 1989/90 konnte er sich auf diese Weise dem Diktat des sozialistischen Realismus in der Literatur entziehen, anstatt sich ihm unterzuordnen. Und danach? Auf einmal holt ihn dieser Realismus in den Akten seines Vaters wieder ein und entwaffnet ihn, sozusagen nachträglich. Der Schutzpanzer der Ironie funktioniert nicht mehr. Die Realität, um die er sich nie sonderlich bemühte, wird ihm aufgezwungen: "Ich bin ich. Dass es jetzt Leute gibt, die Argwohn schöpfen, verstehe ich", schreibt er am Anfang der "Verbesserten Ausgabe", die eine Sammlung von Tagebucheintragungen aus der Zeit seiner unfreiwilligen Forschungsreise im Jahr 2000 ist. Es bleibt ihm dennoch nichts anderes übrig, als in die Offensive zu gehen und sich der bisher ungekannten Seite seines geliebten Vaters zu stellen. Was sind die Aussagen über ihn in "Harmonia Caelestis" vor diesem Hintergrund noch wert? "Ist mein Vater bis ins Mark verdorben?" Diese Frage des verunsicherten Sohnes durchzieht dieses Buch, das in Momenten interessant wird, in denen es Passagen der "Harmonia" den Zitaten aus den Spitzelberichten gegenüberstellt. Das Ausmaß der Spionage ist immens, die Erschütterung und Verzweiflung des Sohnes ebenfalls. Péter Esterházy begegnen hier sämtliche Menschen wieder, mit denen er je in Berührung gekommen war. Die Familie wird nicht verschont, auch er selbst nicht. Kleinteilig berichtet der Vater über Gewohnheiten, politische Einstellungen, familiäre Situationen seiner Objekte. Selbst freundschaftliche Kontakte werden eigens zu dem Zweck des Informationsflusses geknüpft. Letztlich armselige Dokumente.
Die eigene Wiederauferstehung, die Esterházy mit dem Buch versucht, gelingt jedoch nur zum Teil, nämlich auf moralischer Ebene. Nach dem großen Erfolg von "Harmonia Caelestis", monatelang in den ungarischen Bestsellerlisten, war es ein notwendiges gesellschaftliches Signal: Gerade öffentlich errichtet, bekam das Vater-Denkmal tiefe Risse, das musste öffentlich erklärt werden. Zumal von jemandem, der auch als politischer Essayist eine wichtige Rolle in der ungarischen Öffentlichkeit spielt, und der die politischen Prozesse stets kritisch begleitet. Literarisch jedoch, seiner üblichen Stilmittel beraubt, beeindruckt die "Verbesserte Ausgabe" weniger, bleibt eine Sammlung eigener Befindlichkeiten, die aber erschütternd in ihrer Offenheit ist. Erschütternd auch, weil sie zeigt, dass es keine richtige Lösung für den Sohn gibt, mit dem Vertrauensverlust, den Zweifeln und der Fragiliät des Vaters umzugehen. Und so resümiert er: "Meinem Vater können wir - wir Menschen, die er verraten und die er nicht verraten hat - nicht verzeihen, da er sich vor uns nicht zu seiner Tat bekannt und sie nicht bereut hat; er hat nicht bereut, dass er von den dunkleren Hälften seiner Seele besiegt wurde. So kann man ihn bemitleiden, ihn hassen, auch missachten. Ausspucken nach ihm oder auf ihn pfeifen: das ist das Schicksal meines Vaters."
Péter Esterházy sagte einmal, die Familie sei eine "Möglichkeit, Sätze zu bekommen. Und ich habe viele Sätze bekommen." Nicht nur sein Hauptwerk "Harmonia Caelestis" zeigt es: seine Literatur ist ohne den eigenen familiären Hintergrund nicht denkbar und "alle Wege dorthin führten über ihn", den Vater. Eine Annäherung an ihn gelang jedoch nur bruchstückhaft, er blieb dem Sohn fremd: "Ich (tag)träumte, ich würde mich beim Herrgott nach meinem Vater erkundigen. Befragen, ausquetschen, nachboren. Wie er denn so sei. Ich hätte gerne gewusst, wie er so war. Sicher ist Sicher. [...] Aber der Herr gab selbst auf mehrmaliges Betreiben meinerseits keine brauchbare Antwort", schreibt der Sohn in "Harmonia Caelestis".
Hier gelang Esterházy noch, was in der "Verbesserten Ausgabe" nicht mehr funktionierte: die Geschichte einer Wiederauferstehung mit der für ihn typischen Ironie zu erzählen. Es ist keine herkömmliche Familienchronik. Weder eine Chronologie noch deutlich erkennbare Erzählstränge sind herauszulesen, fiktive und reale Elemente werden bunt gemischt. Endlose Anekdotenströme und lange, an Ereignisse geknüpfte Assoziationsketten: all das macht das Werk nicht eben zu einer leichten Kost. Zu bieten hat diese jahrhundertelange Familientradition aber einiges; sie erzählt die Geschichte Ungarns. Schließlich sind aus ihr einflussreiche Diplomaten und Politiker hervorgegangen. Esterházy trauert den vergangenen Epochen, in denen Persönlichkeiten von Goethe bis Churchill der Familie begegneten, nicht nach. Aber die Ironie in einem Überfluss wie hier ist manchmal zuviel des Guten.
Aus "Terror und Gewalt" musste auch diese Familie, wie alle anderen, nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges wiederauferstehen. Und doch war sie im kommunistischen Ungarn nach 1945 nicht "wie alle anderen". Als Abkömmlinge eines so bedeutenden aristokratischen Geschlechts wurden sie 1948 zunächst enteignet und aus Budapest in ein entlegenes Dorf zwangsumgesiedelt. Es begann nun, was sich mit der Geburt des Vaters während der Wirren der Räterepublik 1918 ankündigte: "Mein Vater", schreibt Esterházy, war "seit Jahrhunderten der erste Esterházy gewesen, der rang- und standesungemäß geboren wurde. [...] Damals konnten sie sich noch gar nicht vorstellen, wie einfach wir rang- und standesungemäß werden leben können, dass mein Vater lediglich der erste in einer Reihe war, die noch lang zu werden versprach."
Einfach war es nicht, dieses Leben. Nicht, weil es unstandesgemäß war, sondern weil die Esterházys sich zunächst in einem ärmlichen Alltag zurechtfinden mussten, in dem die Mutter, wie unzählige andere Mütter auch, Kartoffeln klaute. Und dennoch war diese Armut vor dem Hintergrund der Familientradition "anders": "Wir spürten, dass etwas Geheinmnisvolles in unserem Verhältnis zur Armut lag, etwas nicht Normales. Praktisch gesehen, so sahen wir es, waren wir arm, unsere Kleidung war ärmlich [...]. Trotzdem gab es Zeichen dafür, dass diese Armut auf einem obskuren Fundament aufbaute. Allein schon das Kochen!" Trotz allem war die Mutter nämlich nicht davon abzubringen, zum Essen eine Vorspeise zu zaubern, auch wenn diese nur aus einer gekochten Zwiebel mit Mayonnaise bestand. Das Silberbesteck, mit dem die Kinder, weil sie nichts anderes hatten, ihre Mahlzeiten auch am sommerlichen Strand verzehrten, brachte sie in Bedrängnis, denn Kinder wollen nicht anders sein: "Diese Mittagessen unterstützten nicht gerade unsere Verschmelzung mit den Massen des arbeitenden Volkes", fügt Esterházy ironisch hinzu. Sie blieben, auch in der Schule, der aristokratische Gegensatz, den sie oft als unangenehm empfanden.
Was sie nicht wussten: Ihr Vater hatte sich außerhalb der Familie schon längst um die Aufhebung dieses Gegensatzes bemüht. Was sie nicht ahnten: dass es nicht nur der Alkohol und die Frauen waren, die ihn aus dem Haus trieben. Irgendwann begann die Mutter ein Buch über seine "Verfehlungen" zu führen, in dem Tage und Uhrzeiten seines Fernbleibens aufgelistet wurden. Während er, der "Graf von Nichts", schon an einem anderen "Buch" schrieb, sichtbar für die Familie, aber doch unsichtbar: "Dennoch, als wir die Wohnung betreten, sitzt mein Vater schon wieder an der Hermes Baby, die ununterbrochen rattert, wie eine Maschinenpistole, er schlägt, er drischt auf sie ein, und die Wörter fließen..."
Die Familie als Bindeglied der Literatur Péter Esterházys, als Grund dafür, warum bei ihm die Wörter "fließen": In diesem Jahr erschien der 1985 entstandene Roman "Die Hilfsverben des Herzens" in einer Neuauflage, ergänzt um ein Nachwort des ungarischen Nobelpreisträgers Imre Kertész. Es geht um den Tod: Die Mutter liegt im Sterben. Diesmal, im Krankenhaus, wird sie zur Fremden: "Wir sahen uns beinahe gleichzeitig um und bemerkten das Erschreckendste, dass sich unsere Mutter in nichts von ihren Zimmergenossinnen unterschied. [...] Es war nichts an ihr, was wir hätten erkennen können." Wie ihr Sterben die Lebenden, konkret den Sohn, aus dem Rhythmus bringt, davon erzählt der Roman. Davon, wie sich seine Existenz in einzelne Momente auflöst, in eine Folge von Wahrnehmungen, in denen wiederum nicht mehr klar ist, was wahr und erdacht ist - Esterházy ganz in seinem Element. Bevor jedoch seine Welt gänzlich aus den Angeln gehoben wird, bekommt er eine neue Struktur, sofern man bei dem Roman davon sprechen kann, denn auch er bewegt sich nicht von A nach B.
Die Geschichte wendet sich, als die Mutter ins Leben zurückkehrt, während der Sohn als Toter gilt. So erzählt auch dieses Buch von einer Wiederauferstehung. In dem Rollentausch berichtet die Mutter selbst aus ihrem Leben, voll von dichten Erinnerungen an Kindheit, Freunde, Krieg und schließlich auch an ihren Mann. Dem Sohn bleibt nichts, als zuzuhören. Am Ende jedoch kehrt die Realität zurück, ohne Ironie. Der Erzähler führt uns noch einmal in die letzten Tage der alten Frau. Er sitzt an ihrem Krankenbett etwas hilflos, mikroskopisch beschreibt er ihren zerfallenen Körper, es ist eine Liebeserklärung an die Mutter, die ihren Stolz keineswegs verloren hat: "Du hast sie schön gefüttert, deine alte Mutter", lobt sie den Sohn. Der kann nicht erklären, was er erlebt, dieses Nicht-Verstehen aber sehr klangvoll in Poesie umwandeln.
Péter Esterházy
Die Hilfsverben des Herzens.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004;
131 S., 11,80 Euro
Claudia Heine arbeitet als Journalistin in Berlin.