Die Bildung des Menschen kann auf zwei Weisen beobachtet werden: "als biologische Entwicklung und als Aneignung von Wissen". Was wissen nun die Naturwissenschaften über den Menschen, der mit ihrer Hilfe so viel von anderen Dingen weiß? Das ist die Ausgangsfrage, die Fischer sich stellt, und er lädt seine Leser dazu ein, ihn auf seinen Streifzügen durch das komplexe Reich der Naturwissenschaften zu begleiten, um die Frage schrittweise zu beantworten.
Um das Buch zu verstehen, mag eine naturwissenschaftliche Vorbildung nützlich sein. Aber sie ist keine zwingende Voraussetzung, denn Fischer versteht es exzellent, komplexe Sachverhalte elementar und anschaulich zu thematisieren - vor allem weil er sie in Erzählungen kleidet. Fischer ist ein guter Erzähler, der seinen Lesern Wissenschaftsgeschichte in Form populärer Geschichten nahe bringt. Er will wissenschaftlich erworbenes Wissen historisch wie systematisch in möglichst einsichtiger Weise vermitteln.
Wie kommt der Mensch in die Welt, und wie kommt die Welt in den Menschen? Antworten darauf sucht Fischer bei den Naturwissenschaften und ihren Fächern, vor allem bei der Neurobiologie. Für Fischer sind die Menschen "geschaffene und schaffende Organismen zugleich, was in dem Ausdruck der ‚Bildung des Menschen' zusammengefasst wird, da Bildung beides meint, den Vorgang des Bildens und sein Ergebnis, das Gebildete".
Der Blick in das Innere des menschlichen Körpers beginnt für Fischer im 16. Jahrhundert mit dem jugendlichen Autor Andreas Vesalius und seinem Buch "Über den Bau des menschlichen Körpers". Er endet in unserer Gegenwart in Form des humanen Genomprojektes, mit dessen Hilfe sich die Reihe der chemischen Bausteine feststellen lässt, die das Erbgut einer menschlichen Zelle ausmachen. Tiefere Schichten des Lebens gibt es nicht. Die Expedition in das Innere des Menschen hat hier, so Fischer, ihre letzte Grenze und ihr Ende erreicht.
Das Buch erzählt die einzelnen Stationen dieser Expedition in die Welt der Moleküle, Elektronen und Zellen und führt zugleich in Grundzügen in die Methodiken des wissenschaftlichen Denkens ein. Es präsentiert die Anteile einzelner Wissenschaften an der Erforschung des Inneren des Menschen. Der Autor unterstützt seine Argumentation durch zahlreiche Abbildungen und schattierte Grundinformationen. Dabei kommt es ihm darauf an, dem Leser den doppelten Charakter der Welt auch im Mikrokosmos vor Augen zu führen: "Die Elektronen bringen nämlich nicht nur die Welt hervor, sie werden zugleich von ihr hervorgebracht. Die Atome bilden den Kosmos und werden von ihm gebildet. Und dazwischen findet die Bildung des Menschen statt."
Mit dem dritten Kapitel verändert sich die Erzählperspektive. Der Mensch, bislang nur passiver Zuschauer, wird zum Akteur der Geschichte, die davon erzählt, wie die Welt in den Kopf hineinkommt, der von ihr erzählt. Anders ausgedrückt: Fischer schildert in diesem Kapitel wie aus "physikalischen Signalen, etwa dem Licht, mit Hilfe von biochemischen Zwischenstufen - auf der Netzhaut im Auge - das psychische Erleben, das Sehen eines Menschen werden kann, das nicht nur innen liegt, sondern ein anderes und eigenes Innen ergibt, das wir als Bewusstsein kennen". Die Wissenschaften, genauer die Naturwissenschaften, versuchen nachzuvollziehen, was bei diesen Prozessen genau passiert.
Fischer vermittelt das Expertenwissen in didaktisch geschickter Weise. Die biochemischen Prozesse bei der Entstehung des Menschen gehören dabei ebenso zum Thema, wie etwa wie die kluge Auflösung des alten Streites um "Nature or Nurture", für die er die neue Antwort "Nature via Nurture" bereithält. Die Entstehung des Zahlsinns, des Spracherwerbs oder des Sehsinns zählen ebenso zum Themenspektrum wie das Gedächtnis und das Vergessen, die Dauer der Erinnerung und ihre Formen oder der historische Wandel zwischen Subjekt und Objekt.
Sehr klar sieht Fischer auch die Dialektik dessen, was man in der Moderne gemeinhin "wissenschaftlichen Fortschritt" nennt, ein Fortschritt, der sich in vielen Gebieten in sein Gegenteil verkehrt hat. Ausgangspunkt der neuzeitlichen Naturwissenschaften war, so Fischer, das Versprechen, die damals elenden Lebensbedingungen der Menschen nachhaltig zu verbessern. Ihre Geschichte lässt sich durchaus als Erfolgsgeschichte schreiben. Ohne die Errungenschaften der Naturwissenschaften wäre ein komfortables Leben in einer digitalisierten Welt nicht mehr möglich.
Dennoch, so beklagt Fischer gegen Ende des Bandes, sei es häufig geradezu chic, mit seinem mangelnden naturwissenschaftlichen Wissen zu prahlen. In der Öffentlichkeit und in den Medien seien die Naturwissenschaften nicht präsent. Viele Menschen wollen gar nicht wissen, wie eine Tablette wirkt, sondern erwarten, dass sie wirkt; es interessiert sie nicht, wie das Internet funktioniert, sondern nur, dass es funktioniert.
Gegen diese Art von Gleichgültigkeit wendet sich das Buch. Man kann natürlich die "Bildung des Menschen" aus vielen Perspektiven und unter verschiedenen Aspekten schreiben. Fischer tut dies auf sehr originelle und auch für naturwissenschaftliche Laien informative und gut lesbare Art und Weise, die Lust machen kann, dem "Wie" und "Warum" fachwissenschaftlich wie historisch nachzuspüren.
Ernst Peter Fischer
Die Bildung des Menschen.
Was die Naturwissenschaften über uns wissen.
Ullstein-Verlag, Berlin 2004; 482 S., 24,- Euro
Professor Peter Dudek ist Erziehungswissenschaftler; er lehrt an der Universität Frankfurt am Main.