Zu allen Zeiten strebten die Menschen nach dem Glück. Im Unglück waren sie auf das Mitleid und die Hilfe ihrer Mitmenschen angewiesen. Doch die Glückserwartungen - so die These des Münchener Professors für Wirtschaftspädagogik Karl-Heinz Geißler - unterlagen dabei weitaus weniger dem Epochenwandel als die Vorstellungen, in welchem Zeitrahmen denn jene Hoffnungen und Ansprüche befriedigt werden sollten.
Im christlichen - vormodernen - Abendland tröstete noch die theologische Einsicht, dass diesseitiges Le-ben nur "Anlauf zur Ewigkeit" sei, über ausbleibendes Glück hinweg. In der Moderne übernahm die Gesellschaft dann jenes Credo der Ökonomie "Zeit ist Geld". Und als die "Zeit" von der Physik schließlich als "hartnäckige Illusion" entlarvt wurde, verlor die Uhr ihre Geltung als absolutes Ordnungsmuster. Der Abschied vom "chronometrischen Monotheismus" bedeutete zugleich die Abkehr von der damit verbundenen "Pünktlichkeitsmoral" - was für die Suche nach dem Glück durchaus befreiend wirkte. Denn Glückserfahrungen sind in erster Linie nicht mit, sondern gegen die Uhr möglich.
Die Moderne, so Geißler, ist letztlich daran gescheitert, "die Rätsel der Zeit mittels Ordnung lösen zu wollen". Die Postmoderne hingegen akzeptiert, dass unser Umgang mit der Zeit notwendigerweise zu Widersprüchen und Irritationen führt. Das Zeitmuster der Moderne - "Beschleunigung durch Steigerung der Schnelligkeit" - wird daher in der Postmoderne mehr und mehr von der "Beschleunigung durch Vergleichzeitigung" abgelöst. Unser zeitliches Ordnungsprinzip ist der "Zugriff auf alles, jederzeit und überall".
Unser Leben gleicht einem pausenlosen Non-Stop-Programm. Das gilt auch für die Jagd nach Glück und Geld. Denn es genügt keineswegs, immer schneller zu werden. Größte zeitliche und räumliche Flexibilität ist gefragt. Denn in der Welt des "Multitasking" bringt allein die zeitliche Verdichtung den Erfolg. Nicht mehr eins nach dem anderen, sondern möglichst mehrere Dinge gleichzeitig gilt es zu erledigen.
Ohne Gejammer über den Zeitgeist oder plumpe Anbiederung an den Fortschritt legt Geißler mit seinem spannend und zugleich humorvoll geschriebenen Buch den Finger in die offene Wunde der Postmoderne: Wir können uns zwar mit einem Mausklick in London, Rio, Tokio oder New York einfinden, doch weltweit wächst das ungute Gefühl, dass wir "freigeschalteten Menschen" grundsätzlich nicht mehr auf dem Laufenden sind. Hinzu kommt die bittere Erfahrung, dass die täglich größer werdende Anstrengung, Zeit für sich zu gewinnen, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist.
Der Glaube, im Konsum läge das wahre Paradies auf Erden, übersieht nach Geißlers Ansicht eine kleine, aber ungemein wichtige Differenz zum biblischen Paradies: "In diesem war man wunschlos glücklich, während man heute immerzu neue Wünsche benötigt, um glücklich werden zu dürfen."
Unsere Suche nach dem "pausenlosen Glück", so Geißlers erfrischendes Fazit, stößt an heilsame Grenzen: "Das Glück hat seine Heimat in der Pause." Insofern führt Geißler den Leser nicht in ein trostloses Zukunftsszenario, sondern verrät augenzwinkernd, dass vielleicht alles gar nicht so furchtbar kompliziert ist, wenn man nur einmal darüber nachdenkt, "warum ein Kaffeestündchen mit lieben Menschen zufriedener macht als tausend E-Mails".
Wer für unruhige Glücksritter des "Multitasking" ohnehin nur ein mitleidiges Lächeln übrig hat, der wird sich gern in das ruhigere - aber dafür auch tiefere - Fahrwasser des brillanten Essays von Henning Ritter begeben. Er verdeutlicht, dass in Zeiten fortschreitender Globalisierung unser menschliches Miteinander nicht nur von der "pausenlosen Glückssuche", sondern - in Anlehnung an Rousseau - auch von einer "Verdunstung des Mitleids" bedroht ist.
Ritter - Redakteur für das Ressort "Geisteswissenschaften" bei der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" - will wissen, ob wir in einer globalisierten und kommerziell organisierten Welt auch fähig sind, zugleich das "Mitleid mit dem Leiden der Welt" auszudehnen, oder ob unser Ethos in eines für das "nahe" und eines für das "ferne Unglück" zerfällt. Er wird bei seiner Suche nach den "Anfängen der Ungewissheit über unsere moralische Zukunft" vor allem bei den Streithähnen Rousseau und Diderot fündig, spannt jedoch den argumentativen Bogen mühelos von de Sade über Balzac bis hin zu Dostojewski, Freud und Jünger.
Bereits Voltaire hatte vor einer Welt gewarnt, deren Informiertheit weiter reicht als die Gefühle. Doch während der fortschrittsgläubige Diderot die Einheit des Menschengeschlechts über die Vernunft herstellen oder bewahren will, ist für den zivilisationskriti-schen Rousseau ein Mensch, der reflektiert, bereits für das mitfühlende Handeln verloren. Ein "kluger" Mann entfernt sich nun einmal leichter vom Unglücksort als jemand, der sich nicht vom Denken aufhalten lässt und Notleidenden augenblicklich zu Hilfe eilt.
Auch wenn Ritter sich weder in die Gefolgschaft Diderots noch Rousseaus begibt, kann er nicht umhin, Rousseau die bessere Spürnase für das Gefahrenpotential der Zivilisation zu attestieren. Moral funktioniert nun einmal besser in kleinen überschaubaren Gruppen. Und da die "natürlichen Gefühle" nur in der Nähe wirken, bleiben für die Ferne nur die "künstlichen Gefühle". Der Kosmopolit, so Rousseaus hartes Urteil, neigt dazu, in der Ferne Pflichten zu sehen, die er in der Nähe nicht erfüllen will und vertauscht schließlich das Ethos der Nähe mit dem der Ferne - mit der Folge, dass die schwachen Verpflichtungen der Ferne nur noch dazu dienen, einen hohen moralischen Anspruch mit minderer Leistung zu verbinden.
Man braucht nicht lange zu suchen, um aktuelle Beispiele für derartige "Fernstenliebe" zu finden. Ritters faszinierendes Buch erinnert behutsam an die Fallhöhe, in die man gerät, wenn man sich allzu blauäugig vom harten Bodensatz menschlicher Unzulänglichkeiten entfernt.
Karlheinz A. Geißler
Alles. Gleichzeitig. Und zwar sofort.
Unsere Suche nach dem pausenlosen Glück.
Herder Verlag, Freiburg, 2004; 221 S., 19,90 Euro
Henning Ritter
Nahes und fernes Unglück.
Versuch über das Mitleid.
Verlag C. H. Beck, München 2004; 192 S., 19,90 Euro
Reinhard Lassek arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist; er lebt in Celle.