Dennoch muss kein Kandidat befürchten, an dieser parlamentarischen Hürde zu scheitern; denn einzelne Kommissare kann das Parlament nicht ablehnen, da es nur die Möglichkeit hat, entweder die ganze Kommission abzulehnen oder ihm das Vertrauen auszusprechen. Erst nach dieser Abstimmung Mitte Oktober kann die Nachfolgerin der Prodikommission ihre Arbeit am 1. November aufnehmen.
Den mit Spannung erwarteten Auftritt der designierten EU-Kommissarin für die europäische Wettbewerbspolitik, Neelie Kroes, absolvierte die Niederländerin mit Bravour. Sie beantwortete gut vorbereitet mit großem Fachwissen die Fragen der Europaparlamentarier und stellte sich überzeugend als konsequente Verfechterin eines möglichst uneingeschränkten Wettbewerbs im Europäischen Binnenmarkt dar. Mit den Worten "Ich bin unabhängig und unparteiisch" kündigte sie an, in ihrer Amtszeit für eine weitere Deregulierung der Wirtschaft zu sorgen, wobei sie die Wirtschaft aber keinesfalls als Feind betrachte. Vor allem im Bereich der Telekommunikation müssten noch viele Praktiken beseitigt werden, die den Wettbewerb behinderten. Zugleich will die künftige Kommissarin für größtmögliche Transparenz in ihrer Amtsführung sorgen, damit die Menschen in Europa mehr Informationen über die Bedeutung der Wettbewerbspolitik erhielten.
Unmittelbar nach ihrer Nominierung durch die niederländische Regierung war die Holländerin wegen ihrer Nähe zur Wirtschaft erheblich in die Kritik geraten. Von nicht lösbaren Interessenkonflikten war die Rede, weil die frühere niederländische Verkehrsministerin zuletzt gleich in mehreren Verwaltungs- und Aufsichtsräten großer europaweit tätiger Unternehmen saß. Dazu gehörte der Mobilfunkanbieter MMO2, der Automobilkonzern Volvo, das französische Elektronikunternehmen Thales, das niederländische Logistikunternehmen P&O oder der US-Kommunikationsausrüster Lucent. Die Kritik war besonders laut im linken Lager, weil sich die designierte Kommissarin als liberale Politikerin und eingefleischte Marktwirtschaftlerin für diesen Aufgabenbereich empfohlen hatte.
Den Vorwurf möglicher Interessenkonflikte hatte sie schon vor der Anhörung aus dem Weg geräumt. Zunächst hatte sie ab 1. September alle Posten bei den Unternehmen niedergelegt. Und indem sie weit über den nach dem Sturz der Santerkommission 1999 entwickelten Verhaltenskodex für EU-Kommissare hinausging, verpflichtete sich Kroes schriftlich dazu, nach ihrer Amtszeit "für immer und ewig" keine Aufgabe in der Privatwirtschaft mehr zu übernehmen. Das zielte auf das Verhalten des früheren deutschen Wirtschaftministers und späteren EU-Binnenmarktkommissars Martin Bangemann, der sofort nach Beendigung seines Brüsseler Amtes einen langfristigen Vertrag beim spanischen Telecom-Riesen Telefonica unterschrieben hatte.
Sollten sich für die Niederländerin dennoch mögliche Konfliktsituationen abzeichnen, wenn sie zu Unternehmen, in deren Gremien sie tätig war, Untersuchungen einzuleiten und Entscheidungen zu treffen hätte, dann, so versprach die Kandidatin, werde sie die Angelegenheit abgeben und Kommissionspräsident Barroso bitten, einen Kollegen mit der Prüfung dieses Falles zu betrauen. Dies soll zumindest innerhalb einer "Abkühlungsphase" von einem Jahr der Fall sein. Im Übrigen habe sie alle ihre Aktien verkauft und ihr Privatvermögen für ihre Alterversorgung in eine Stiftung eingebracht, damit es dort von zwei ihr nicht bekannten Treuhändern in Fonds angelegt werde.
Überwiegend positive Eindrücke hinterließ bei den Anhörungen auch der für das Ressort Bildung und Kultur vorgesehene slowakische Kommissar Jan Figel, der sich gut vorbereitet zeigte. Schwerer hatte es da schon sein tschechischer Kollege, der für Arbeit, Soziales und Gleichberechtigung zuständige Vladimir Spilda, der immer wieder zu einer "klaren Positionierung zu der noch immer eklatanten Benachteiligung von Frauen in der türkischen Gesellschaft" aufgefordert wurde. Da half Spilda auch nicht der Hinweis, dass diese Fragen noch nicht unmittelbar seinen Aufgabenbereich beträfen, weil die Türkei nicht Mitglied der EU sei. Doch offenbar sollten hier bereits für die anstehenden Debatten über die Aufnahme der Türkei Punkte gesammelt werden.
Fachlich gut vorbereitet zeigte sich auch die frühere polnische Europaministerin Danuta Hübner, die nun in Brüssel für Regionalpolitik zuständig sein wird. Doch ihre Aussage zum Beitrittsgesuch der Türkei, der gut auf die finanziellen Folgen hin überprüft werden müsse, damit sich die EU nicht übernehme, wurde von vielen Abgeordneten als eher peinlich empfunden, stammt er doch von der Vertreterin eines Landes, das erst ein halbes Jahr Mitglied der EU ist und das finanziell besonders stark von der Solidarität der anderen Mitgliedsländer profitiert.
Beeindruckend, kompetent und mutig genug, ihre eigene Meinung auch gegenüber starken Interessensgruppen zu vertreten, fasste die dänische Expertin für Haushaltsfragen, Anne Jensen, ihre Meinung zur Anhörung der designierten Haushaltskommissarin Dalia Grybauskaitë aus Litauen zusammen.
Ihre Meinung vertrat die zukünftige Chefin über die EU-Finanzen unzweideutig und legte den Finger in die Wunde der bisherigen Agrarpolitik. Die Politik in diesem hauptsächlich aus Subventionen bestehendem Sektor, der noch immer rund die Hälfte der EU-Ausgaben verschlingt, sei nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen sollte der Haushalt der EU künftig ein Katalysator für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt in Europa sein. Würden die Reformen verschoben und sollte die mit der Lissabon-Strategie verbundene Wachstumsinitiative kein Erfolg werden, drohe die Idee der Europäischen Integration insgesamt Schaden zu nehmen, und die Menschen in den Mitgliedsländern würden in Pessimismus und Angst getrieben.
Zum künftigen Finanzrahmen der EU für den Zeit-raum von 2007 bis 2013 sprach sich Grybauskaitë für mehr Flexibilität aus bei der Umwidmung von Haushaltslinien aus. Bis zu einem gewissen Limit sollte es möglich sein, dass die Haushaltsbehörden nicht benötigte Gelder aus einem Sektor auf einen anderen übertragen. So könne man schnell auf veränderte Prioritäten reagieren.
Auf die Frage eines ungarischen Abgeordneten der EVP, wo nach ihrer Meinung die Obergrenze für die EU-Finanzplanung festgelegt werden sollte, erklärte die Litauerin, ob es 1,0 oder 1,4 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) der EU seien, hänge von den von Ministerrat, Parlament und Kommission zu beschließenden Prioritäten ab. Für die laufende Finanzperiode liegt die mögliche Obergrenze der EU-Ausgaben bei 1,24 BNE, wird aber mit knapp über 1,0 Prozent bei weitem nicht ausgeschöpft. Viele der Nettozahler in der EU wie Großbritannien und Deutschland wünschen eine Obergrenze von maximal 1,0 Prozent.
Für den neuen EU-Industriekommissar Günter Verheugen soll die Umsetzung der Lissabon-Agenda höchste Priorität in seiner zweiten, fünfjährigen Amtszeit erhalten.
Die im kommenden Frühjahr anstehende Halbzeitbilanz will Verheugen zum Anlass nehmen, eine neue Strategie zum Erreichen der anvisierten Wachstumsraten und Beschäftigungsquoten zu entwickeln. Der Kommissar kritisierte die mangelnde Zielgenauigkeit und mangelnde Konzentration auf die Kernbereiche Wachstum und Beschäftigung in der bisher verfolgten Politik.
Seine eigene Rolle bei der Umsetzung sieht Verheugen darin, dass er die ihm übertragene Koordinierungsaufgabe für alle mit Wirtschaftsfragen befassten Ressorts dazu nutzen will, alle Gesetzesvorlagen der Kommission auf ihre Auswirkungen auf die europäische Wettbewerbsfähigkeit hin zu überprüfen. Kam der Kommissar mit dieser Aussage den von der deutschen Bundesregierung in ihn gesetzten Erwartungen entgegen, indem er unterstrich, dass die Unternehmen in Europa ein ordnungspolitisches Umfeld frei von nachteiligen Regulierungen benötigten, so machte er aber auch seinen Willen zu völlig unabhängigem Handeln deutlich. Er werde mit gleicher Konsequenz gegenüber denjenigen standhaft bleiben, die in Sonntagsreden die Notwendigkeit des Wettbewerbs predigten und Freitags bei ihm wegen Absprachen zum Schutz vor Wettbewerb vorstellig würden.
Besondere Aufmerksamkeit will der neue Industriekommissar den Entwicklungsmöglichkeiten der mittelständischen Unternehmen widmen. Diese Firmen, die 50 Prozent der Wertschöpfung erzielten und mehr als zwei Drittel aller Arbeitnehmer beschäftigten, bezeichnete Verheugen als Rückgrat der wirtschaftlichen Entwicklung und des Fortschritts in Europa. Verheugen warnte die Banken, die Kreditvergabe für die kleinen und mittleren Unternehmen zu erschweren.
Entschieden wehrte sich Verheugen gegen die These, Europa erlebe wegen des internationalen Wettbewerbs eine Phase der generellen Deindustriealisierung. Dies sei völlig falsch, weil es mit dem normalen Strukturwandel verwechselt werde, dem man sich weder widersetzen dürfe noch langfristig widersetzen könne. Richtig sei, dass Europa wegen seines höheren Lohn- und Sozialstandards in einigen Sektoren, wie der Textilindustrie oder im Bergbau, nicht mithalten könne. Dafür gebe es andere und neue Branchen mit erheblichem Wachstum.
Auf Vorwürfe des EVP-Abgeordneten Langen, in der Frage der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei bereits beim Besuch des türkischen Ministerpräsidenten eine Woche zuvor in Brüssel den Beschluss befürwortend präjudiziert zu haben, riet Verheugen allen Kritikern, erst einmal seinen in der nächsten Woche erscheinenden Bericht abzuwarten. Manch einer werde sich über die schriftlich niedergelegten Schlussfolgerungen noch wundern.