Die Suche führt in die Sackgasse: Rungestraße 20, eine abgelegene Straße am Rande von Berlin-Mitte, ein altes Industriegebäude im zweiten Hinterhof. Laufpublikum verirrt sich sicher nicht in diese halbtote Ecke. Ein merkwürdiger Ort für ein merkwürdiges Kino. Im zweiten Stock liegt das Dokument-Kino, das europaweit einzige Filmtheater für Dokumentarfilme, wie der Betreiber Knut Beulich versichert. Vor der Vorstellung klebt Beulich noch schnell die Filmstreifen zusammen. Heute läuft in der Abendvorstellung "Sein und Haben", der Erfolgsfilm über eine französische Zwergschule. Um 18:00 Uhr zeigt Beulich "Die Fünfte", einen Film über eine Grundschule im Prenzlauer Berg, der noch nie irgendwo gelaufen ist: "Ich bin gespannt, wer sich das antut."
So geht das meistens. Das Dokument-Kino zeigt Filme wie "Die Fünfte" oder "Wo der Himmel die Erde berührt", eine Dokumentation aus Kirgisien über der Konflikt zwischen traditionell nomadischer Lebensweise und der industriellen Ausbeutung von Bodenschätzen, also derart kleine Filme, dass sie kein ökonomisch denkender Mensch auf die große Leinwand bringen würde. Aber Knut Beulich denkt auch nicht ökonomisch: "Auch wenn sich nur einer hierher gekämpft hat, dann zeige ich den Film." Auch das kommt vor. Ein Gast für den Einmannbetrieb. Knut Beulich hat sein Lichtspielhaus im Alleingang geschaffen, hat die Wände gestrichen, den Fußboden verlegt und eine Bar zusammen gezimmert. Er hat einen Secondhand-Projektor aufgetrieben und bei E-Bay Sitzreihen ersteigert - Kinos, die Pleite machen, gibt es schließlich genug. 30 haben allein in Berlin in den letzten vier Jahren geschlossen. Na und? mag sich Beulich gesagt und sein "Experiment" auf den Überresten gescheiterter Filmträume errichtet haben. Und manchmal funktioniert das Experiment sogar.
Es gibt Tage, an denen alle 100 Plätze ausverkauft sind, und das sind meistens die Tage, an denen das Programm besonders bizarr ist. Einer der Erfolgsfilme hieß "Die rote Kapelle" und handelte von eine Berliner Widerstandsbewegung im Dritten Reich; der andere dokumentierte die SM-Szene, "hart an der Pornografie", wie Beulich sagt. Dass diese Film so viel Publikum gefunden haben, hängt mit ihrer Abseitigkeit zusammen: Den einen sahen sich die zahlreichen Nachfahren der Roten-Kapelle-Mitglieder an, den anderen die halbe Berliner SM-Szene. Langsam hat Beulich begriffen, wie der Erfolg funktioniert: "Je kleiner das Zielpublikum ist, desto mehr kommen." Die Nische als Chance?
Der Dokumentarfilm jedenfalls hat seine Nische verlassen. In letzter Zeit überschlagen sich die Erfolgsmeldungen: "Deep Blue" sahen 750.000 Deutsche, bei der "Die Geschichte des weinenden Kamels" waren es 250.000, und "Höllentour", Pepe Danquarts Tour de France-Film, erreichte 70.000 Zuschauer. Auch "Buena Vista Social Club" oder "Black Box BRD" sind echte Kassenschlager gewesen. Die Wirklichkeit erobert die Kinos, und das, obwohl die Zuschauerzahlen insgesamt rückläufig sind, und selbst Hollywoods Megaproduktionen immer öfter um das Einspielen der Produktionskosten kämpfen müssen. Gemessen an den Spielfilmen, sind die Dokumentarfilme Low-Budget-Produktionen, mit einer im Erfolgsfall höheren Gewinnspanne. Doch trotzdem schaffen nur zehn von 1.000 Filmen den Sprung auf die große Leinwand, schätzt Knut Beulich. Allein in die Kopie muss ein Kino rund 20.000 Euro investieren, weshalb hauptsächlich populäre Themen in den Kinos landen. "Da geht einem viel durch die Lappen", glaubt Beulich, "zum Beispiel Filme, die auch ihr Publikum finden könnte, aber eben nicht die 30.000". Es gibt unzählige solcher Filme. Weil die Technik immer leichter zu bedienen ist, drehen immer mehr Filmverrückte einfach drauf los. Fertig ist der Film. Knut Beulich, der auch Dokumentarfilme produziert, hat selber so angefangen und in Eigenregie einen Inder porträtiert. Solche Filme sucht er auch für sein Kino auf Festivals oder im Fernsehen. Manchmal taucht auch jemand mit einer selbst gedrehten Cassette bei ihm auf. Beulichs Programmkriterien: "Wenn etwas total verrückt ist, dann möchte ich das ausprobieren."
Ein bisschen verrückt sind aus kommerzieller Kinosicht wohl auch die Gäste, die sich in die Rungestraße verirren. Die vier, die sich am frühen Abend "Die Fünfte" anschauen wollen, wissen nichts über den Film: Hauptsache Dokfilm. Das ist doch spannend, nicht zu wissen, was da auf einen zukomme, erzählt einer, und im Fernsehen seien solche Filme ja kaum noch zu sehen. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen versteckt solche Filme meistens im Spätprogramm - zu wenig Quote. Und dennoch boomt der Dokumentarfilm auch im Fernsehen. Das fand zumindest eine Untersuchung der Landesanstalt für Medien Nord-rhein-Westfalen heraus: Fast 1.500 Dokumentationen liefen allein im Oktober des vergangenen Jahres - das sind gut 1.000 Stunden Programm. Während der klassische Dokumentarfilm in der Nacht versinkt, drängeln sich auf den besseren Sendeplätzen die artverwandten Formate: Doku-Soaps und Doku-Dramen, in denen die Wirklichkeit nach den Gesetzen der Fiktion dramaturgisiert wird. Tanzkurse und Müttertausch, Diätversuche und Fahrschüler - solange die Protagonisten Normalmenschen sind, schauen die Leute zu. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen setzt auf die nach den Regeln der Unterhaltungsformate gestylten Doks, aber auch die Privaten machen mit der Wirklichkeit Quote: Big-Brother-Container, Superstar-Suche, Dschungel-Camps und demnächst auch mit OP-Shows.
Von dieser Entwicklung wiederum profitiert das Kino. Keiner hat die neue Kreuzung von Dokumentation und Fiktion so erfolgreich umgesetzt wie Michael Moore. Sein "Fahrenheit 9/11" hat nicht nur als erste Dokumentation die "Goldene Palme" in Cannes gewonnen, sondern als erster Dokumentarfilm 100-Millionen-Zuschauer erreicht. Mit der objektiv-distanzierten Beobachtung des klassischen Formats ist es im Falle Moore indes vorbei: Ungeniert setzt er sich selbst ins Bild und dreht den Film nach seiner Meinung. "Propaganda" schreien die Einen, "gute Unterhaltung" kontern die Anderen. Auf jeden Fall ein Riesengeschäft: Insgesamt haben Dokumentationen in den USA 2003 einen Gewinn von 49,2 Millionen Dollar gemacht. 1998 waren es nur 7,6 Millionen. Seit Michael Moore gezeigt hat, wie man den Dokfilm auf Kassenknüller dreht, ziehen andere Regisseure nach: Morgan Spurlocks "Super Size Me" ist so ein Hybrid, der zwar nicht die Moore-Rekorde erreicht, aber trotzdem sein Geld einspielt.
Mit dem großen Geld hat Knut Beulich trotz des Booms indes nichts zu schaffen. Mit seinen klassischen Filmen und drei Euro Eintrittspreis kann der Mann nicht reich werden. Deshalb nennt er sein Kino auch keine Geschäftsidee, sondern eine "Kulturidee". Eine Nische für Liebhaber, an denen der Trend vorbeigeht. Beulich selbst ist auch so einer. Ein guter Film, das hat für ihn weniger mit Kurzweil zu tun, sondern "gut gemacht heißt für mich, dass ich einen Menschen kennen lerne und mehr über ihn erfahre. Das funktioniert auch in 100 Jahren noch". Das erste Kinojahr ist mit dieser Minimal-Philosophie nicht schlecht gelaufen, "erstaunlich gut", sagt Knut Beulich. Trotzdem wird er auch im zweiten Jahr seine ganze Freizeit in das Projekt investieren und seinen Lebensunterhalt mit eigenen Filmen verdienen müssen. Ob das auf Dauer gut gehen kann? "Ich mag total gern den Alexis Sorbas", sagt Knut Beulich, "der sich in einem halben Jahr Arbeit eine Seilbahn gebaut hat, um die Baumstämme zum Meer zu bringen. Beim ersten Baumstamm funktioniert es noch, beim zweiten fängt`s an zu wackeln, und beim dritten kracht es dann ganz malerisch zusammen. Und er freut sich und führt einen Tanz auf, weil das so malerisch zusammengekracht ist."