Die alte Revox-Tonbandmaschine leiert vor sich hin. Ein Mann mit hochgezogenen Augenbrauen lehnt seinen Kopf bedächtig an die Tonspule des über 30 Jahre alten Gerätes, als suchte er nach einer Bestätigung, dass es tatsächlich durch die Sandstürme in Kabul gelitten hat. Hier sitzt kein Reparateur, sondern ein Kontrolleur, und eine Handvoll Kollegen in karrierten Hemden mit Schnäuzer sitzen neben ihm. Die Herren arbeiten in der "Evaluierungs-Abteilung" von Afghanistans staatlichem Rundfunk RTA (RadioTelevion Afghanistan).
Auf gut Deutsch bedeutet "Evaluierung" Zensur. Jedes Wort, jedes Skript wird kontrolliert auf mögliche Kritik an der Regierung Karsai, auf ethnische Vorurteile, auf kritische Fragen. Nichts wird live gesendet. Ob und wie Fragen der Zensur zum Opfer fallen, erfährt oft niemand, denn in der Regel praktizieren die Journalisten von RTA Selbst-Zensur, noch ehe ein Report die Evaluierungs-Abteilung erreicht. Beispiel: Ein Originalton, der erklärt, warum in der Provinz Bamian - dort wo einst die Buddha-Statuten standen - die Beteiligung von Frauen an der Registrierung für die Präsidentschaftswahlen im Oktober besonders hoch ist, wird von der Redakteurin wieder gestrichen. "Die Evaluierungskommission würde es als Bevorzugung der dort lebenden Hazara-Mehrheit gegenüber anderen Ethnien werten", argumentiert sie resigniert.
"Das ist das Erbe von zehn Jahren Kommunismus und einer afghanischen Geschichte, die nie eine freie Presse gesehen hat, sondern Journalisten als Büttel im Dienste autokratischer oder totalitärer Regime beschäftigte", erklärt Peter Vogt. Der Deutsche soll in Kabul zusammen mit wenigen Europäern Afghanistans staatlichen Rundfunk reformieren.
Es gibt Hoffnungen, dass sich einiges ändert nach den Wahlen. Alle gehen davon aus, dass Hamid Karsai Präsident bleibt und dass dann die Tage der Evaluierungs-Abteilung gezählt sein könnten. Das kann Monate, aber auch Jahre oder Jahrzehnte dauern.
Eine Etage unter der Evaluierungs-Abteilung sitzen Redakteure der Nachrichten-Abteilung von RTA. Hier steht kein Faxgerät, kein Internet-Anschluss, nur ein Bunsenbrenner, auf dem das Mittagessen gekocht wird. Das Büro als Küche - das ist üblich in den staatlichen Behörden. Auch die Nachrichten-Redakteure von RTA sind - drei Jahre nach Beginn der militärischen Operation "Enduring Freedom" - keine Journalisten, sondern Befehlsempfänger. Die Meldungen, die sie verlesen, werden von der staatlichen Nachrichten-Agentur Bakthar verfasst, der tägliche Ghostwriter heißt Abdul Hamid Mubarez und ist stellvertretender Minister für Kultur und Information. Das reformierte Medien-Gesetz der Regierung Karsai, das seit Ende März in Kraft ist, trägt seine Handschrift: "Noch nie konnten Journalisten in Afghanistan so frei berichten und publizieren", sagt Mubarez mit dem Brustton der Überzeugung. Die Crux daran: viele Journalisten befürchten, dass eine per Gesetz neu geschaffene Kommission, die alle neuen Publikationen unter die Lupe nehmen will, die Presse-Freiheit eher beschneidet als fördert, denn die Kommission wird von einem Mitglied aus eben jenem Informations-Ministerium geleitet, das auch den Gesetzestext erstellt hat.
UN- und US-Diplomaten haben das neue Medien-Gesetz anfangs als demokratischen Fortschritt gefeiert. Es bedeutet Fortschritt, weil es dem Wortlaut nach jegliche Beschränkung der Publikationsfreiheit aufhebt. Aber der Weg zur Pressefreheit nach westlichem Muster ist lang und steinig.
Als letztes Jahr die Festnahme von Hussein Mahdawi und Ali Reza Payan, den Chefredakteuren von "Aftab" (Sonne), einem politischen Wochenmagazin, Wellen schlug mussten ausländische Regierungen bei Präsident Karsai intervenieren, damit das Todesurteil gegen die beiden Journalisten nicht vollstreckt wurde. Der oberste Gerichtshof hatte ihnen Gotteslästerung vorgeworfen: Ihr "Delikt": Mahdawi und Payan hatten in einem Artikel mit dem Titel "Heiliger Faschismus" unter anderem die Frage aufgeworfen: "Wenn der Islam tatsächlich die letzte und umfassendste aller offenbarenden Religionen ist, wie kommt es dann, dass die muslimischen Staaten in der modernen Welt so weit zurück liegen ?" Die neue afghanische Verfassung verläuft an der Nahtstelle zwischen modernem westlichen Staatsverständnis und traditioneller islamischer Rechtsauslegung im Sinne der Scharia. Einschüchterung und Tabus, der angesprochene Hang zur Selbstzensur sowie das kulturelle Erbe wirken als Hindernis. In einem Land, in dem 70 bis 80 Prozent Analphabeten leben, fehlt der Presse eine Leserschaft als Verbündeter, der sie zur vierten Gewalt machen würde.
Verstöße gegen das Presserecht sind inbesondere in den Provinzen an der Tagesordnung, wo Gouverneure, Milizen-Chefs und selbsternannte Kommandeure das Sagen haben. Auf der Gründungsveranstaltung einer Journalisten-Gewerkschaft schaute unlängst der Herausgeber einer unabhängigen Publikation in die Runde: "Ich sehe hier so viele Warlords, dass ich mich frage, wann die alle Journalisten geworden sind."
Oft wird Journalisten mit Entlassung gedroht, sobald sie einen Hauch von Kritik einfließen lassen. Das führt bei Journalisten des staatlichen Rundfunks dazu, dass sie die Regierenden mit Samthandschuhen anfassen. Für unabhängige Medien bedeutet es Interviewverbot.
Hinzu kommt der Terror: in Kandahar wurde unlängst das Büro von Killid, einem unabhängigen Medien-Unternehmen, beschossen. Ein Mitarbeiter wurde entführt - von Taliban, so die gängige Mutmaßung. Killid vertreibt in Kandahar ein Magazin mit Fotos und berichtet ueber aktuelle Frauen-Thematik. Beides hat im Süden keine Tradition.
Themen, die Frauen betreffen, liegen in der Regel an der oben beschriebenen Nahtstelle: Zwangsheirat, Vergewaltigung in der Ehe, Kinderhandel, Selbst-Verbrennungen. Ahmad Behzad von Radio Free Afghanistan, einem Sender, der von der US-Regierung finanziert wird, wurde geschlagen, verhaftet und aus der Stadt Herat ausgewiesen, nachdem er in Gegenwart von Gouverneur Ismail Khan die Lage der Menschenrechte in dessen Stadt öffentlich angeprangert hatte.
Immerhin können die Afghanen mittlerweile nachlesen, dass die Schalthebel von Korruption und Drogenhandel bis hoch in die Regierung Karsai reichen. Karsais Pressesprecher Jawid Ludin drohte einem afghanischen Journalisten unlängst, als dieser über die Festnahme eines Kollegen berichtete: "Schreiben Sie nicht über solche Themen!"
Der Jahresbericht von Reporter ohne Grenzen liest sich wie ein who-is-who physischer und psychischer Angriffe auf Journalisten in Afghanistan im vergangenen Jahr. Auch Abdul Samay Hamed ist darin erwähnt. Der rund 40-jährige Dichter und Autor, der 2003 den International Press Freedom Award erhielt, ist so etwas wie ein rotes Tuch für afghanische Machthaber, ob unter der russischen Besatzung, den Mujaheddin, den Taliban oder jetzt der Karsai-Regierung. Drei Anschläge hat er überlebt, zuletzt vor seiner Haustür in Kabul.
Abdurrab Jahed, Chef des staatlichen Rundfunks in Mazar-i-Sharif, einer Stadt, die als vergleichsweise offen gilt, glaubt, dass angesichts der ungeklärten Sicherheitslage im Land Journalisten die Aufgabe haben, die Regierung zu unterstützen. "Selbstzensur ist ein probates Mittel, die Menschen zusammenzubringen."
23 Jahre überwachter Journalismus erschweren nicht nur freies Denken, sondern auch die Fähigkeit, strukturiert zu arbeiten, zu recherchieren und zu schreiben. In afghanischen Zeitungen steht noch immer das Wichtigste oft am Ende, anstelle von Fakten liest man Gerüchte.
US-Aid, die amerikanische Behörde für Entwick-lungshilfe, hat 2004 rund 40 Millionen Dollar für den Aufbau von 17 unabhängigen Radio-Stationen in Afghanistan investiert. Weitere 20 sollen bis zur Parlamentswahl im April folgen. Die Rolle der USA bleibt ambivalent. Sie überlassen die Reform des staatlichen Rundfunks Europäern und Asiaten. Aber in Ausnahmefällen bestimmen sie die Regeln. So verfügt der US-Botschafter in Afghanistan, Khalilzad, dem Hören-Sagen nach über das Recht, sich zweimal pro Monat in einer Radio-Ansprache an das afghanische Volk zu wenden. In Kandahar soll der Direktor des staatlichen Regional-Studios auf der Gehaltsliste der USA stehen.
Während die US-Spezialstreitkräfte täglich westliche Journalisten (vornehmlich Fotografen und TV-Reporter) zu Einsätzen mitnehmen, in denen diese als "embedded" schriftlich in den Verzicht auf sämtliche Presse-Rechte einwilligen, um einen Eindruck vom Einsatz gegen Taliban und Al Qaida zu erhaschen, bleiben afghanische Journalisten davon ausgeschlossen.
Das Land ist - was die Medien-Nutzung angeht - zweigeteilt. In Kabul gibt es über 230 Zeitungen und Zeitschriften. 20 Kilometer außerhalb kann man so gut wie kein Blatt erwerben. Angesichts der vielen Analphabeten ist Rundfunk das Haupt-Medium.
Die deutsche Rolle beim Wiederaufbau der Medien ist sichtbar, aber nicht immer optimal koordiniert. Die Deutsche Welle hat im Juli ein sechsmonatiges Projekt zur Hilfe des staatlichen Rundfunks und seiner Regional-Studios gestartet. Techniker, TV- und Radio-Trainer unterrichten dabei das journalistische Einmaleins und verbessern die technische Ausstattung. Die Präsenz internationaler Medien-NGOs hat für afghanische Journalisten eine Schutz-Funktion. Video-Journalistinnen zum Beispiel könnten sonst keine Filme außerhalb von Kabul drehen. Ziel journalistischer Entwicklungshilfe sollte sein, dass dieser Schutz so rasch wie möglich obsolet wird.