Die zu einer Anthologie zusammengefassten "Dialoge" sind mit zwei Ausnahmen bereits an anderer Stelle veröffentlicht worden. Sie zeigen Enzensberger, wie man es bei ihm gewohnt ist, als literarischen Connaisseur und geschickten Collagisten, der - etwa in dem fingierten Rundfunkinterview mit Diderot oder der anachronistischen Talkshow mit Zeitgenossen Goethes - seine Lesefrüchte pointenreich arrangiert und in einen abwechslungsreichen Gesprächsduktus bringt.
Bei der mit Werbespots im Stil der damaligen Zeit durchsetzten Fernsehdiskussion "Nieder mit Goethe" zeigen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen, darunter ein allwissender Großkritiker und eine "standesbewusste Dame der Gesellschaft" (bei der man an Charlotte von Stein denken mag), dem Olympier gegenüber eine solche sich selbst blamierende leidenschaftliche Bissigkeit, dass man geradezu von einer "Liebeserklärung" ex negativo sprechen kann. Der mitwirkende Birnbaum, "Typus des linken Eiferers mit leicht streberhaften Zügen", dem jungen Börne nachempfunden, meint: "Zeitverschwendung noch mehr über diesen Herrn zu sagen, der, angstvoller als eine Maus, sich beim leisesten Geräusche in die Erde hineinwühlt, und Luft, Licht, Freiheit, alles, alles hingibt, um nur in seinem Loche ungestört am gestohlenen Speckfaden knuppern zu können!"
Enzensberger montiert bei seinem hintersinnigen Pasquill Zitate aus rund 50 Quellen der Goethe-Zeit. Insgesamt präsentiert er mit Witz und Ironie Texte tieferer Bedeutung, wobei man seine Feststellung zu Alexander Herzen, von dem die Bearbeitung zweier Dialoge aus den Jahren 1847/48 in den Band aufgenommen wurde, auf Enzensberger selbst beziehen kann: Jede Generation glaube an die Einzigartigkeit ihrer Sinnkrisen; der russische Schriftsteller, Führer der radikalen "Westler" (1812-1870), begegne jedoch den Niederlagen und Enttäuschungen, deren Zeuge und Opfer er war, "mit einer Haltung, die ihn zu einem Nothelfer von höchster Aktualität macht: mit rücksichtsloser Analyse und mit offensiver Phantasie".
Auch Enzensberger, einst stürmisch drängender, jetzt konservativer Aufklärer, Protagonist einer skeptischen Generation, die ihre Sinnkrisen erst als unvergleichlich empfand, dann mit zunehmendem Alter ihre durchaus anregende Überheblichkeit relativierte. Heute ist er ein Intellektueller, der Niederlagen und Enttäuschungen mit Hilfe rücksichtsloser Analyse und offensiver Phantasie zu bewältigen vermag; freilich unter Vermeidung der Opferrolle - ist ihm doch antizipatorische Vernunft zu eigen, so dass sein Gegen-die-Zeit-gehen schon wieder mit der kommenden Zeit geht. Und dabei ist er noch unterhaltsam.
So ist auch dieses Buch wieder sehr lesenswert. Freilich hätte manchmal ein kluger Essay wohl noch mehr erbracht als solche erdachten, von einem Poeta doctus elaborierten Gespräche: "Der Eine: Der Luxus, denke ich, ist weit entfernt von der Triebnatur der Verschwendung. Er gehorcht einem strikten Code, und der hängt wiederum von den vorherrschenden Klassenverhältnissen ab. Der Andere: Aha! Dem Prediger hängt der marxistische Hemdzipfel heraus. Nur so weiter! Gleich werden wir beim Klassenkampf landen." So zwei Herren auf einer Hotelterrasse; im "Dialog über den Luxus".
Szenisch zu schreiben, mag eine heimliche Liebe Enzensbergers zum Theater bekunden - ein Gebiet, auf dem er nicht reüssierte; was jedoch zu oft dabei herauskommt, ist nur Schulfunk-Auflockerungsdidaktik.
Hans Magnus Enzensberger
Dialoge zwischen Unsterblichen, Lebendigen und Toten.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2004;
215 S., 19,80 Euro