Am Beginn des Buchs von Harald Weinrich, zuletzt Professor für Romanistik am Collège de France in Paris, steht ein Dilemma: Die Lebenserwartung der Menschen ist kontinuierlich gestiegen, aber viele Menschen in der hektischen Welt von heute haben das Gefühl, dass ihnen die Zeit immer knapper wird.
Der Philosoph und Dichter Lucius Annaeus Seneca (wahrscheinlich 4 v. Chr. bis 65 n. Christus, nicht zu verwechseln mit seinem Vater, dem gleichnamigen Redner und Rhetoriklehrer) verfasste mit dem Werk "Über die Kürze des Lebens" eine der meistgelesenen Schriften der römischen Antike. Darin übernimmt er vom Aristoteles-Schüler Theophrast den Zeit-Geld-Vergleich. Seneca bezeichnete die Lebenszeit des Menschen als hohes Gut, das mit dem Geld vergleichbar sei - mit dem einen Unterschied: Die Zeit sei im Vergleich zum Geld materiell ungreifbar. Demnach sei es nicht überraschend, dass niemand den Wert der Zeit erkennt, obwohl sie doch in Wahrheit das allerwertvollste Gut der Welt sei. Für die Menschen müsste es demnach selbstverständlich sein, mit der Zeit mindestens so sorgsam wie mit Geld umzugehen.
Benjamin Franklin, einer der Gründungsväter der Vereinigten Staaten von Amerika, prägte 1736 den Slogan "Zeit ist Geld". Er sah eines Tages, dass eine arme alte Frau vor seinem Haus die Straße kehrte. Sie tat dies in der Hoffnung, man werde ihr etwas dafür zahlen. Franklin zahlte ihr einen Schilling und stellte fest, dass die Frau ihre Arbeit nun doppelt so schnell erledigte als zuvor. Er kalkulierte, dass ein starker tüchtiger Mann die Arbeit noch effektiver erledigen kann. Er gründete einen Reinigungsdienst mit jungen gesunden Männern; die Frau ging leer aus, obwohl sie die Idee hatte. Aber, so Weinrich, es sei letzlich ein ganz einfaches Rechenexempel, das darauf hinauslaufe, durch optimale Organisation der Arbeitszeit menschliche Arbeitskraft einzusparen.
Weinrich beschreibt das Phänomen Zeit in seinen vielfältigen Ausprägungen. Besondere Auswirkungen auf unser heutiges Leben behandelt er im Kapitel "Mit Fristen und Terminen leben". Um 1300 wurden in Oberitalien die ersten mechanischen Uhren erfunden. "Seitdem befindet sich die Menschheit, wenigstens in der westlichen Welt, im Rausch des Uhrenzeitalters, und hat es sich mit dem unaufhaltsamen Fortschritt der feinmechanischen und elektronischen Uhrmacherkunst nicht nehmen lassen, die permanente Zeitkontrolle bis zur Perfektion und Obsession auszubilden."
In dem von Hartmut Rosa, Soziologe an der Universität Jena, herausgegebenen Buch befasst sich Wilhelm Hofmann mit dem Lebenstempo und Zeitempfinden in Ostdeutschland vor und nach der Wende: Im Vergleich zum Westen war das Alltagsleben in der DDR geprägt durch eine hohe Strukturiertheit der Zukunft (verursacht durch den geringen Spielraum im Ausbildungssystem, die weit in die Zukunft reichenden Vorgaben der Planwirtschaft sowie die große Stabilität der Arbeitsplätze), eine stärkere Synchronisation von Tagesabläufen, geringere Auswahlmöglichkeiten, stärkere soziale Integration und häufigere Erfahrungen des Wartens, etwa neun Jahre auf den "Trabbi". Da es für den einzelnen kaum Einflussmöglichkeiten gab, entstand in der DDR eine Kultur des geduldigen Wartens, die humorvoll "sozialistische Wartegemeinschaft" genannt wurde.
Das westdeutsche System basierte auf Qualität und rascher Verfügbarkeit der Produkte. Der ungeduldige Kunde hatte und hat ja die Möglichkeit, zur Konkurrenz zu gehen. Der Anspruch war, überall und sofort bedient zu werden. Als Resultat fielen die Wartezeiten im Westen deutlich geringer aus.
Mit der Wiedervereinigung veränderte sich das Szenario total: "Der gesellschaftliche Umbruch und die damit verbundenen Anpassungsleistungen haben einen schockartigen Temposchub im Osten bewirkt." Nach der Beobachtung Hofmanns waren gerade die Wendejahre durch ein im Vergleich zum Westen überhöhtes Lebenstempo geprägt. Heute haben sich die verschiedenen Zeitkulturen einander angeglichen.
Nadine Schöneck weist nach, dass das Gefühl der Getriebenheit vieler Menschen in der modernen Gesellschaft mehr ist als ein Medienphänomen. Rund 80 Prozent der von ihr Befragten berichten, dass sich nach ihrem Empfinden ihr Leben in den letzten Jahren deutlich beschleunigt habe. Hier existiert eine Diskrepanz zwischen erlebtem und gewünschtem Lebenstempo. Nach Schöneck wird diese permanente Schnelligkeitsforderung dadurch verschärft, dass wir als Mitglieder einer "Multioptionsgesellschat" auch Angehörige einer "Versäumnisgesellschaft" sind. Da wir also ständig von der Furcht geplagt sind, etwas zu verpassen, müssen wir uns eben beeilen.
Beide Bücher ergänzen sich ideal. Harald Weinrich (Jahrgang 1927) bietet eine umfassende Kulturgeschichte des befristeten Lebens. Seine philosophischen Betrachtungen reichen vom berühmten Satz des um 400 v. Chr. lebenden Arztes Hippokrates ("Kurz ist das Leben, lang ist die Kunst") bis zum Film "Lola rennt" aus dem Jahr 1998 von Tom Tykwer. Hartmut Rosa (Jahrgang 1965) versammelt Beiträge von vorwiegend jungen Autorinnen und Autoren. Sie beleuchten aus ungewöhnlichen Blickwinkeln unsere heutige Zeitwahrnehmung, untersuchen die Rolle der Medien im Beschleunigungsprozess der Spätmoderne und präsentieren die Be- und Verarbeitung solcher Zeiterfahrungen in der zeitgenössischen Kunst.
Die Lektüre der beiden Bände ist allen zu empfehlen, die sich dem komplexen Thema Zeit nähern. Zugleich kann jede Leserin und jeder Leser Anregungen gewinnen, der nach Alternativen zum vorherrschenden Zeitstress sucht. So werden zunehmend Stimmen laut, die eine Entschleunigung unseres Lebens fordern. In Klagenfurt wurde bereits ein "Verein zur Verzögerung der Zeit" gegründet, der sich regen Zulaufs erfreuen soll.
Harald Weinrich
Knappe Zeit.
Kunst und Kritik des befristeten Daseins.
Verlag C.H. Beck, München 2004; 272 S., 22,90 Euro
Hartmut Rosa (Hrsg.)
Fast forward.
Essays zu Zeit und Beschleunigung.
Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2004; 212 S., 12,- Euro