Die Wiedervereinigung Deutschlands: Nicht wenige haben sie in der Zeit des Ost-West-Konfliktes für unerreichbar gehalten. Doch nach dem die SED-Regierung den Reiseverkehr zwischen Ost- und Westdeutschland am 9. November 1989 freigegeben hat und die Mauer damit de facto gefallen ist, scheint die Einheit Deutschlands nicht mehr undenkbar. Schon wenige Tage vor der Maueröffnung sind bei den Leipziger Montagsdemonstrationen gegen das SED-Regime erstmals auch Sprechchöre mit dem Ruf "Deutschland einig Vaterland" zu hören. Immer öfter heißt es jetzt nicht mehr nur "Wir sind das Volk", sondern auch: "Wir sind ein Volk". Doch noch gehören die Bundesrepublik und die DDR zwei gegnerischen Militärbündnissen an. Gleichzeitig zieht es immer mehr Ostdeutsche in den Westen, allein nach dem Mauerfall werden etwa 46.000 Übersiedler gezählt.
In dieser Situation ergreift Bundeskanzler Helmut Kohl mit seinem Zehn-Punkte-Programm am 28. November 1989 die Initiative, um die Lösung der deutschen Frage mit Nachdruck auf die weltpolitische Tagesordnung zu setzen. Seinen politischen Fahrplan zur Überwindung der Spaltung Deutschlands hat er weder mit Regierung noch mit der Opposition und auch nicht mit anderen europäischen Regierungen abgestimmt. Nur den amerikanischen Präsidenten George W. Bush senior, den CDU-Vorstand sowie einige ausgewählte und zum Schweigen verpflichtete Journalisten hat der Bundeskanzler vorab informiert. Sein Zehn-Punkte-Programm, das er am 28. November 1989 im Rahmen einer Haushaltsdebatte des Bundestages vorlegt, hat Kohl in den Tagen zuvor, unterstützt von seinem außenpolitischen Berater Horst Teltschik und einer von ihm geleiteten Arbeitsgruppe, entworfen.
"Die Einheit lässt sich nicht vom grünen Tisch und mit dem Terminkalender in der Hand planen. Aber wir können die Etappen vorbereiten, die zu diesem Ziel führen", sagt Kohl, ehe er ins Detail geht. Die beiden deutschen Staaten, so der Kern seines Programms, sollen organisch und in drei Stufen von einer Vertragsgemeinschaft über eine Konföderation zu einem föderalen Bundesstaat zusammenwachsen.
Der Bundeskanzler stellt der vom SED-Politiker Hans Modrow geführten DDR-Regierung humanitäre und finanzielle Hilfe in Aussicht. Als Gegenleistung dafür soll die DDR-Führung den Reiseverkehr zwischen West- und Ostdeutschland weiter erleichtern und den Zwangsumtausch für Bundesbürger abschaffen. Kohl macht außerdem deutlich, dass es eine Wirtschaftshilfe der Bundesrepublik sowie eine umfassende und institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen beiden deutschen Staaten nur dann gaben kann, wenn die SED ihr Machtmonopol aufgibt, freien Wahlen zustimmt, alle politischen Häftlinge freilässt, das politische Strafrecht abschafft und eine Abkehr von der Planwirtschaft vollzieht.
Im außenpolitischen Teil seines Zehn-Punkte-Programms unterstreicht der Kanzler, dass Deutschland in den gesamteuropäischen Prozess "eingebettet" bleibt und seine "künftige Architektur" in eine "gerechte europäische Friedensordnung eingefügt sein" müsse. In diesem Zusammenhang bezeichnet Kohl die Europäische Gemeinschaft "als Grundlage der gesamteuropäischen Einigung" und fordert ihre Öffnung gegenüber den Reformstaaten Ost- und Mitteleuropas. Für die DDR fordert er "angemessene Formen der Assoziierung". In dem er sich nicht nur für konsequente Abrüstung und Rüstungskontrolle, sondern auch für einen Ausbau der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) ausspricht, versucht der Bundeskanzler internationalen Vorbehalten gegen eine Wiedervereinigung Deutschlands vorzubeugen oder ihnen zumindest die Spitze zu nehmen. "Wie ein wiedervereinigtes Deutschland schließlich aussehen wird, weiß heute niemand. Dass aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich mir sicher", formuliert Kohl das Resümee, ohne am 28. November 1989 ahnen zu können, dass die Einheit schon am 3. Oktober 1990 kommt. Das Echo ist kontrovers. Während die Grünen den Plan ablehnen, ist die Unterstützung in der Union uneingeschränkt. Auch SPD und FDP begrüßen das Programm zunächst, um später eine Ergänzung zu fordern, die die Oder-Neiße-Linie als deutsche Ost- und polnische Westgrenze anerkennt. International steht der Kritik aus Moskau und Ost-Berlin sowie den Vorbehalten in London und Paris die Unterstützung Washingtons gegenüber. Obwohl auch andere Pläne diskutiert werden, die vom Fortbestand einer reformierten DDR ausgehen, zeigte schon Kohls triumphaler Dresden-Besuch am 19. Dezember 1989, dass alles auf die Einheit Deutschlands zusteuert.