Kinder kriegen die Leute immer", erklärte Bundeskanzler Konrad Adenauer in den 50er-Jahren. Der CDU-Politiker war 80 Jahre alt, als seine Regierung die umlagefinanzierte Rente einführte: Die Arbeitnehmer zahlten einen Beitrag ihres Einkommens in die Rentenkasse, die das Geld den Ruheständlern überwies. Adenauer irrte - die Deutschen bekamen und bekommen immer weniger Nachwuchs. Das Verhältnis zwischen Arbeitenden und Alten gerät aus der Balance, das Rentensystem wird immer teurer, der demografische Wandel macht das Sozialversicherungssystem insgesamt unfinanzierbar.
Einerseits erreichen immer mehr Menschen das Alter Adenauers, der fast 90-jährig im Jahre 1967 starb. Bis 2050 wird sich nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts die Zahl der über 80-Jährigen mehr als verdreifachen - auf rund zehn Millionen. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung klettert von derzeit 40 auf 52 Jahre.
Andererseits bekommt eine Frau in Deutschland heutzutage durchschnittlich nur noch 1,4 Kinder. Das Land hat eine der niedrigsten Geburtenraten der Welt. Immer weniger Jüngere müssen immer mehr Ältere versorgen. Weil zudem das Verhältnis zwischen Rentnern und Arbeitskräften - verstärkt durch die Beschäftigungsmisere - schneller kippt, steigen die Beiträge für die sozialen Versicherungssysteme zwangsläufig.
Dabei will die Bundesregierung die Sozialabgaben seit Jahren unter die magische Marke von 40 Prozent des Lohns senken. Aber das ist ihr bislang misslungen. Zurzeit werden knapp 42 Prozent fällig: In die gesetzliche Rentenversicherung fließen derzeit 19,5 Prozent; die Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung liegen in einigen Kassen so hoch wie nie und erreichen durchschnittlich 14,1 Prozent; für die Arbeitslosenversicherung müssen Arbeitnehmer und Arbeitgeber 6,5 Prozent leisten; die gesetzliche Pflegeversicherung schlägt mit 1,7 Prozent zu Buche.
"Wer nichts tut, macht alles nur schlimmer", sagt Bundeskanzler Gerhard Schröder. Aber trotz der Agenda 2010, die Rot-Grün unter Schröder umsetzen will, gelingt der Regierung nicht die Trendwende. Heute und erst recht in der Zukunft fressen die sozialen Sicherungssysteme das Fundament auf, das sie dringend benötigen: die ökonomische Leistungsfähigkeit. Noch mehr Reformen tun not - und Oppositionsführerin Angela Merkel analysiert: "Das größte Missverständnis zwischen Politik und Bevölkerung besteht darin, dass die Politik die Sicherung des Lebensstandards nicht versprechen kann, wenn er nicht erarbeitet wird."
Zwar sinken die Sozialabgaben auf Grund der Reformen in den kommenden Jahren zunächst um knapp vier Prozentpunkte auf gut 38 Prozent, schreibt das Ifo-Institut in einer Studie im Auftrag des Bundesfinanzministeriums. "Anschließend", warnen die Wissenschaftler, "steigen sie bis 2050 jedoch kontinuierlich an" - wegen der demografischen Entwicklung. Die Kinderlosigkeit sei "eine der größten Herausforderungen für die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik der nächsten Jahrzehnte".
Die Politik steckt im Dilemma. Erhöht der Staat die Sozialbeiträge, verteuert er den Faktor Arbeit - was Jobs vernichtet. Hebt er die Steuern an, um die Sozialkassen mit seinen Geldern zu bezuschussen, belastet er die Steuerzahler. Dann verfügen die Verbraucher über weniger Einkommen, um zu konsumieren. Den Unternehmen fehlt das Kapital, um zu investieren. Auch das kostet Arbeitsplätze.
Die jahrelang gewählte Strategie der öffentlichen Hand, einfach mehr auszugeben als einzunehmen, ist keine Lösung. Sinn und Zweck der Haushaltskonsolidierung haben sich herumgesprochen. Schon auf gegenwärtigem Niveau bürdet die staatliche Verschuldung der heutigen Generation ihren Kindern und Kindeskindern eine erhebliche Last auf. Sie verteilt sich künftig auf immer weniger Schultern, was den Lebensstandard der Nachfahren immens beeinträchtigt.
Nach der Ifo-Studie beansprucht die öffentliche Hand einen immer größeren Teil des Kuchens. Die Staatsquote wächst auf mehr als 50 Prozent. Damit übertrifft der öffentliche den privaten Anteil am Bruttoinlandsprodukt - kurios für eine Marktwirtschaft. Bereits heute lebt mehr als die Hälfte der Bundesbürger von staatlichen Transfers: Die Mehrheit konsumiert Leistungen, für die eine Minderheit aufkommen muss.
"Schnelle Reformen sind nötig", fordert der Internationale Währungsfonds (IWF) mit Blick auf die alternden Gesellschaften der nördlichen Hemisphäre. Er verlangt einen Politik-Mix, der es in sich hat: einen größeren Anteil von Arbeitenden in der Bevölkerung, längere Lebensarbeitszeiten, mehr Zuwanderer, höhere Produktivität - und all das auch noch schnellstmöglich.
Die Rezepte sind schwer verdaulich und nur mühsam durchsetzbar. Trotzdem machen einige Staaten bereits vor, wie die Sozialversicherungen wieder eine Zukunft bekommen. Ausgerechnet Schweden, in den Augen vieler der Wohlfahrtsstaat par excellence, verordnete seinen Bürgern einen rigorosen Sparkurs. Selbst der traditionell steuerfinanzierten Volksrente, auf die bis vor wenigen Jahren jeder Schwede einen Anspruch hatte, ging es an den Kragen. Angesichts der Finanznöte kürzte die Politik das Arbeitslosen- und Krankengeld, die Familienbeihilfen und Renten.
Überall auf der Welt finden sich Beispiele für Volkswirtschaften, die mit deutlich weniger Sozialabgaben auskommen als Deutschland. Mehr als 40 Prozent müssen nicht sein: In den USA und Japan, Dänemark und Großbritannien liegt die Quote nur zwischen zehn und 20 Prozent.
Sie lässt sich beispielsweise drücken, indem ältere Beschäftigte länger arbeiten, anstatt in die Rente abgeschoben zu werden. Laut Gesetz sollen Arbeitnehmer in Schweden, Großbritannien und Deutschland mit 65 in Rente gehen. Tatsächlich jedoch arbeiten in Schweden 68 Prozent der Männer zwischen 55 und 64 Jahren, in Großbritannien 60 Prozent. Dagegen sind es in Deutschland nur 48 Prozent. Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) beklagt das Motto 30-60-90, das auf viele gut ausgebildete Akademiker mit einem hohen Einkommen zutrifft: "Bis 30 ausgebildet werden, bis 60 arbeiten und 90 Jahre alt werden." Ihre Forderung: "Vorn und hinten ist mehr möglich, ohne dass wir auf Qualität verzichten müssen."
In der Rentenversicherung steuert das Adenauer-Modell derweil auf immer größere Schwierigkeiten zu. Für Axel Börsch-Supan, Professor am Mannheimer Forschungsinstitut Ökonomie und demographischer Wandel, wäre es ideal gewesen, hätten die Deutschen sich in den 80er-Jahren vom Generationenvertrag verabschiedet und auf ein halb umlagefinanziertes und halb kapitalgedecktes Verfahren umgestellt. Länder wie die Schweiz und die Niederlande haben die Chance genutzt - und nun weit weniger Probleme.
"Riester ist 15 Jahre zu spät gekommen", sagt der Rentenexperte. Zwar sorgt die nach dem Arbeitsminister der Jahre 1998 bis 2002 bezeichnete Rente dafür, dass es neben dem Umlageverfahren von Generation zu Generation eine weitere Säule gibt: das Kapitalverfahren, in dem ein im Erwerbsleben Aktiver für den eigenen Ruhestand vorsorgt. Allerdings kommt sein Anteil bis 2008 nur auf maximal vier Prozent des Bruttolohns - eine im internationalen Vergleich klitzekleine Summe.
Zurzeit sichert die gesetzliche Rente hier zu Lande 85 Prozent der Alterseinkommen. In Großbritannien sind es nur 65 Prozent. Denn die Säulen der privaten Vorsorge sind stärker ausgebaut - weil die Firmen ihren Mitarbeitern eine private Versicherung zu günstigen Konditionen anbieten müssen.
Staaten wie Großbritannien, Kanada und die USA setzten früh auf mehr Zuwanderung. Deutschland hielt die Grenzen hingegen recht verschlossen, so dass heute Einwanderer aus dem Ausland den demografischen Prozess längst nicht mehr umkehren können. So müssten jährlich per saldo rund 400.000 Menschen zuwandern, nur um die Bevölkerungszahl hier zu Lande stabil zu halten. Um die demographisch bedingte Schrumpfung des inländischen Arbeitskräfteangebots auszugleichen, müssten es sogar netto 550.000 pro anno sein. "Die sozialen Kosten der Integration würden kräftig steigen", sagt Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank.
Dass höhere Produktivität den Einbruch ausgleicht, ist unwahrscheinlich. Denn je mehr Senioren es gibt, umso stärker dürften die Widerstände gegen Innovation sein, etwa gegen neue Prozesse oder Produkte. "In älteren Gesellschaften ist die Risikoaversion größer, und der technische Fortschritt ist geringer", sagt der ehemalige Wirtschaftsweise Horst Siebert. "Die wirtschaftliche Dynamik wird sinken."
Das passt nur noch schwer zu den für Deutschland typischen Unternehmen, die sich Innovation auf die Fahnen geschrieben haben - ob aus dem Maschinenbau, der Autoproduktion oder der Elektroindustrie. Ein Konzern wie Siemens erneuert seine Produktpalette heutzutage alle fünf Jahre. Im Jahr 1980 erlöste das Unternehmen erst 48 Prozent mit Gütern, die jünger als fünf Jahre waren. 1985 waren es bereits 55 Prozent, und 2001 erreichte diese Quote 75 Prozent.
Dieser Trend kann zum Risiko für eine Gesellschaft werden, in der die Älteren das Sagen haben. Schließlich war Kapital niemals zuvor so mobil wie heute - per Knopfdruck kann es jeder Anleger exakt dort auf der Welt einsetzen, wo er eine höhere Rendite erwartet. Womöglich versprechen die durchschnittlich jüngeren Volkswirtschaften in Fernost, Nord- und Lateinamerika mehr Offenheit für Neuheiten und einen höheren Ertrag für Investoren.
"Politiker müssen die Reformvorhaben voranbringen, bevor die Chance ein für alle Mal vertan ist", warnt der IWF, "in vielen Ländern fährt in Sachen Rentenreform der letzte Zug in nicht allzu ferner Zukunft ab." So dauere es in Deutschland nur gut zehn Jahre, bis die Mehrheit aller Wähler älter als 50 Jahre ist - eine Mehrheit für Veränderung ist dann noch schwerer zu finden als heute.
Es sei denn, die Alten gelten demnächst einfach nicht mehr als alt - und bleiben, selbst mit 65 oder 75, jung. Demografieforscher Vaupel prognostiziert, dass die Lebenserwartung in den kommenden Dekaden um jeweils 2,5 Jahre zunimmt. Im Jahr 2100 beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung eines Neugeborenen dann mehr als 100 Jahre. "In Zukunft", glaubt der Wissenschaftler, "können die Menschen ohne Probleme bis zu ihrem 70. oder gar 80. Lebensjahr arbeiten".
Dr. Jobst-Hinrich Wiskow ist Redakteur des Wirtschaftsmagazins "Capital" in Köln.