Daran scheint die Abnutzung oder Störanfälligkeit im Innern der Zellen schuld zu sein. Es treten im Laufe des Lebens Irrtümer bei der Synthese von Eiweißen auf, die Zellen aus dem Takt bringen. Oder Abfallprodukte des Stoffwechsels, die so genannten freien Radikale, schädigen auf Dauer die Moleküle mit den Erbanlagen, die DNA. Eine weitere Ursache der Lebensbegrenzung liegt vermutlich an den Enden der Chromosomen, den Telomeren. Erlahmt ihre Funktion, können sich die Zellen nicht mehr vernünftig teilen - es wird Herbst im Organismus. Auch das Abwehrsystem oder der Insulinstoffwechsel spielen beim Altern eine wichtige Rolle.
Es gibt also ganz unterschiedliche Faktoren, die uns früher oder später das Zeitliche segnen lassen. Und diesen komplexen Vorgängen ist die Biologin Almut Nebel auf der Spur. Am Institut für klinische Molekularbiologie des Universitätsklinikums Kiel leitet sie die Forschungsgruppe "gesundes Altern". Im Rahmen eines groß angelegten EU-Projekts (GEHA, Genetic of Healthy Aging), in das 7,2 Millionen Euro über die nächsten fünf Jahre fließen, sind Forscher aus elf europäischen Ländern sowie Israel und China auf der Suche nach 2.800 Geschwisterpaaren, die über 90 Jahre alt sind. Diese Zahl gaben die Statistiker vor, damit die Ergebnisse der Untersuchungen aussagekräftig sind. Die Wissenschaftler interessieren sich vor allem für Besonderheiten der Erbanlagen, aber auch für die Lebensumstände und Gewohnheiten dieser Senioren, die dann mit einer etwas jüngeren Kontrollgruppe verglichen werden. "Wir möchten herausfinden, ob die Langlebigkeit Resultat von der Abwesenheit für krankmachende Gene, zum Beispiel für Krebs, Alzheimer oder Herzinfarkt ist", sagt Almut Nebel. Aber vielleicht fänden sie auch spezifische Gene, die Stoffwechselprozesse lebensverlängernd beeinflussen können.
Schon jetzt gibt es im Tierversuch erstaunliche Ergebnisse in diese Richtung. Forscher aus Pennsylvania, USA, beschrieben letztes Jahr in der Fachzeitschrift Nature die Auswirkung von Sirtuinen, eine für die Energiegewinnung wichtige Eiweißfamilie, auf die Lebenserwartung von Hefen. Diese Einzeller lebten ganze 70 Prozent länger, wenn die Produktion der Sirtuine angeregt wurde, was zum Beispiel durch Entzug von Nährstoffen oder die Gabe von Resveratrol, einer im Rotwein vorkommenden Substanz, geschieht. Fasten erhöht auch bei anderen Labor-Tieren die Lebenserwartung. Forscher der Universität Connecticut haben das so genannte Sir2-Gen überexprimiert und erreichten damit, dass die Fruchtfliegen Drosophila 57 Prozent länger durch das Forschungsterrarium summten, sofern sie zusätzlich weniger zu futtern bekamen. Wurde das Gen ausgeschaltet, verhalf eine Diät nicht zu längerem Leben. Bei Menschen ist dieser Nebeneffekt des Nahrungsentzugs mehr als umstritten.
Die Forscher in Kiel haben eine ähnliche Arbeitsteilung mit ihren europäischen Kollegen wie die Flugzeugbauer von Airbus, die zum Beispiel halbfertige Flieger zwischen Toulouse und Hamburg hin- und herschicken. Bei der Altersforschung tauschen die unterschiedlichen Institute Daten oder Blutproben miteinander aus, denn sie haben spezielle Schwerpunkte bei den Untersuchungsmethoden. Drei Kandidaten-Regionen auf den Chromosomen nehmen die Wissenschaftler dabei ganz besonders ins Visier: Gene auf dem Chromosom 4, vermutlich verantwortlich für den Fettstoffwechsel; den kurzen Arm des Chromosoms 11, mit Genabschnitten, die beim Energiestoffwechsel eine Rolle spielen, und ein Gen auf Chromosom 19, das mit der Alzheimer-Krankheit in Verbindung gebracht wird. Noch haben die Kieler allerdings kein einziges greises Geschwisterpaar für ihre Studie gefunden - und der deutsche Datenschutz macht ihnen die Rekrutierung auch nicht einfach. Denn eigentlich haben die Forscher schonmehr als 1000 Proben von Deutschen über 95 Jahren in ihrem Labor zur Verfügung; könnten sie diese anschreiben und nach Geschwistern fragen, hätten sie bestimmt einige rasch beisammen. Doch bei allen Analysen muss die Anonymität der Probanden gewährleistet sein. Was bei den bisherigen Untersuchungen herauskam, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, sowie vom Nationalen Genomforschungsnetz finanziert wurden, will Almut Nebel unter keinen Umständen preisgeben: "Es gibt auf diesem Gebiet einen erheblichen Wettbewerb und vielleicht lassen wir auch einige unserer Erkenntnisse patentieren." Immerhin ist es denkbar, dass künftig eine Gentherapie zur Lebensverlängerung eingesetzt werden könnte. "Leider ist diese Entwicklung nicht ausgeschlossen, doch das streben wir keinesfalls an", sagt die Biologin Nebel. Sie wolle nur verstehen, wieso der Mensch altert, aber nicht in die Natur eingreifen, denn die Lebenserwartung würde ja ohnehin schon drei Monate pro neuem Jahrgang steigen.
Nachdem kaum noch Seuchen, Infektionen oder Hungersnöte Menschen der Industrienationen hinwegraffen, scheinen die wichtigsten Faktoren für ein langes Leben die Erbanlagen, der Lebensstil und die medizinische Versorgung zu sein. Ein Viertel der Langlebigkeit ist offensichtlich den Genen zu verdanken. Ein hohes Alter war auch in der Familie von Jeanne Calmet, die mit 122 Jahren bisher den Altersrekord hält, keine Seltenheit: Der Vater wurde 94, die Mutter 86 und der Bruder 93. Rauchen reduziert die Lebenserwartung durchschnittlich um zehn Jahre, und starkes Übergewicht ist ähnlich schädlich. Dass die medizinische Versorgung im hohen Alter eine sehr entscheidende Rolle spielt, zeigt eine Untersuchung des Max-Planck-Institutes für demographische Forschung in Rostock. Vor der Wende lebten Ostdeutsche durchschnittlich drei Jahre kürzer als die kapitalistischen Landsleute. Etwa zehn Jahre nach dem Fall der Mauer glich sich die Lebenserwartung bei den Frauen an - bei den Männern zeigt sich zumindest ein Trend in die gleiche Richtung.
Wieso leben Männer eigentlich immer drei bis fünf Jahre kürzer als Frauen? Vielleicht sind es die unterschiedlichen Hormone, der riskantere Lebensstil, mit mehr Unfällen, Gewalt oder Drogen. Doch Jutta Gampe, Leiterin des Statistischen Labors am Max-Planck-Institut für demographische Forschung in Rostock, verdächtigt in erster Linie das männliche Verhalten im Umgang mit Krankheiten: "Männer sind feige, sie gehen seltener zum Arzt wenn eine Unregelmäßigkeit in ihrem Körper auftritt." Das würde ganz klar am Beispiel des Hautkrebses, der beide Geschlechter gleichermaßen betrifft. Doch weil Männer sich meist zu spät behandeln lassen, ist ihre Sterblichkeit für diese Krebsform signifikant höher als bei Frauen. Außerdem sind Männer unbeholfener in häuslichen Dingen und pflegen weniger Freundschaften als Frauen. Deshalb scheint ihr psychisches Gleichgewicht dermaßen durcheinander zu kommen, wenn die Partnerin stirbt, dass sie ein wesentlich höheres Risiko haben, ihrer Liebsten bald darauf ins Jenseits zu folgen, als umgekehrt der Fall - selbst unter Berücksichtigung des Altersunterschieds.
Einen kleinen statistischen Trost hat Jutta Gampe parat, der besonders für die Männer zutrifft: "Es ist nie zu spät, den Lebensstil zu verbessern." Selbst das Rauchen noch mit 80 aufzugeben, könne das Leben verlängern. Einer dänischen Studie zufolge, ließ auch ein ganz sanftes Fitnessprogramm in einem Pflegeheim die Greise älter werden. Viele Menschen wollen aber gar nicht an sich selber arbeiten, sondern das lieber Medikamenten überlassen. So tauchen immer wieder Berichte über alternde Prominente auf, die sich das extrem teure Wachstumshormon spritzen lassen, um ihre Körper jung zu halten. Vor Nebenwirkungen wird allerdings von Forschungsinstituten gewarnt.
Die Biologin Almut Nebel, die sich tagtäglich mit der Frage nach dem gesunden Altern beschäftigt, hat außer einem vernünftigen Lebenswandel keine besonderen Tipps: "Ich lebe überhaupt nicht anders als früher." Nicht einmal die klassischen vermeintlichen Lebensverlängerer wie Vitamin C, Knoblauch oder Rotwein würde sie verstärkt konsumieren.
Achim Wüsthoff ist freier Journalist in Hamburg und schreibt unter anderem für "Die Zeit".