Meinungsumfragen zeigen eine vergleichsweise hohe Zustimmung der Bevölkerung zu den demokratischen Institutionen. Alle wichtigen Akteure haben die formellen und informellen Spielregeln des demokratischen Wettbewerbs akzeptiert. Somit gibt es keine bedeutsamen Gruppen wie zum Beispiel die Armee, welche die indische Demokratie in Frage stellen. Diese gegensätzlichen Aspekte bestimmen das Bild Indiens als einer funktionierenden Anarchie. Gemessen an seinen Ausgangsbedingungen und Herausforderungen kann das politische System dennoch als vergleichsweise erfolgreiches Modell gelten. Seine besondere Leistung besteht darin, in einer multiethnischen Gesellschaft unter den Bedingungen von Massenarmut dauerhaft ein gefestigtes demokratisches Regime etabliert zu haben.
Auf einer Fläche von der Größe Europas verbindet die Indische Union eine soziale und kulturelle Vielfalt, welche diejenige Europas bei weitem übertrifft und eine einzigartige Sozialstruktur hervorgebracht hat. Der indische Subkontinent ist nicht nur Heimat von Weltreligionen wie dem Hinduismus, zu dem sich rund 80 Prozent der Bevölkerung bekennen, sondern die Indische Union ist mit etwa 150 Millionen Muslimen zugleich auch eines der größten islamischen Länder weltweit. 22 der weit über hundert Sprachen haben Verfassungsrang. Hinzu kommen rund 3.000 Kastengruppen sowie unterschiedliche Stammes- und Volksgruppen.
Sowohl die gesellschaftliche Heterogenität als auch die weit verbreitete Armut galten zunächst als Hindernisse für eine demokratische Entwicklung. Allerdings zeigt sich, dass gerade die einst als Nachteil wahrgenommene Vielfalt einer der Erfolgsgaranten für die demokratische Entwicklung wurde. Indien ist politisch eine Minderheitsgesellschaft. Die Mehrheit der Hindus bildet keine einheitliche politische Gruppe, da sie durch verschiedene Sprachen und regionale Kastenstrukturen voneinander getrennt sind. Diese Zersplitterung der indischen Gesellschaft hat von Beginn an die Notwendigkeit zum politischen Kompromiss und einer zentristischen Politik befördert.
Die Auseinandersetzung der Unabhängigkeitsbewegung mit der britischen Kolonialmacht hat ein westliches Verständnis von Staat, Demokratie und Institutionen bei den indischen Eliten verankert. An der Spitze des Landes steht der Präsident, der vor allem repräsentative Aufgaben wahrnimmt. Im Zentrum der politischen Kontroversen befinden sich der Premierminister und sein Kabinett. Im System der Gewaltenteilung hat die Exekutive ein deutliches Übergewicht. Das Unterhaus (Lok Sabha) besteht aus insgesamt 543 Abgeordneten, deren Kontrollfunktion gegenüber der Regierung nur schwach ausgeprägt ist. 120 Abgeordnete sind Vertreter der unteren Stammes- und Kastengruppen. Sie vertreten deren Anliegen in den verschiedenen Parteien. Die 245 Abgeordneten des Oberhauses (Rajya Sabha) sind zwar die Vertreter der Bundesstaaten, haben aber deutlich geringere Kompetenzen als der deutsche Bundesrat. Eine sehr viel stärkere Kontrollfunktion übt hingegen die Judikative in Form des Obersten Gerichtshofs aus. Durch das Instrument der Public Interest Litigation (PIL) hat er in den vergangenen Jahren immer stärker auch öffentliche Aufgaben an sich gezogen und eine Reihe von Reformen, etwa im Umweltbereich und beim Arbeitsschutz, eingeleitet. Die Wahlkommission ist politisch unabhängig und sanktioniert auch Verstöße der regierenden Parteien gegen die Wahlgesetze. Bei der Wahl 2004 wurden erstmals flächendeckend elektronische Wahlmaschinen eingesetzt.
Indien hat sich von Beginn an als säkularer Staat verstanden. Die religiösen Minderheiten erhielten verfassungsrechtliche Privilegien wie zum Beispiel das Recht auf eigene Bildungseinrichtungen sowie ein eigenes Familien- und Erbrecht. Die hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) versuchte ab Mitte der 80er-Jahre, Indien zu einem Staat für die Hindu-Mehrheit zu machen. Die Privilegien sollten abgeschafft werden, und die Minderheiten sollten sich der Mehrheitsgesellschaft unterordnen. Die politischen Auseinandersetzungen führten auch zu einer Zunahme der gewaltsamen Ausschreitungen zwischen den Religionsgruppen. Trotz ihrer Wahlerfolge konnte die BJP aber nie mehr als 25 Prozent der Wähler, zumeist aus den oberen Kasten, für sich gewinnen.
Der indische Föderalismus ist zentralistisch geprägt. Der Aufbau der Bundesstaaten ähnelt der nationalen Ebene, mit einem vom Präsidenten ernannten Gouverneur. Sobald Recht und Ordnung nicht mehr gewährleistet sind, kann er die Landesregierung entlassen. Die Forderungen nach größerer politischer und kultureller Autonomie haben eine Reihe gewaltsamer Konflikte zwischen der Zentralregierung und verschiedenen sprachlichen und ethnischen Gruppen, zum Beispiel im Pandschab und in Assam, entfacht. Die 1956 begonnene Reorganisation der Bundesstaaten entlang der Sprachgrenzen hat viele dieser Konflikte entschärft. Im Jahr 2000 wurden die Bundesstaaten Chhattisgarh, Jharkhand und Uttaranchal neu gegründet, um unter anderem der dortigen Stammesbevölkerung eine größere politische Mitsprache zu geben. Durch diese Politik konnte die territoriale Einheit des Landes bis heute bewahrt werden Mit den Verfassungsänderungen 1993 erhielten die lokalen Selbstverwaltungsgremien (Panchayati Raj) erstmals einen eigenen Platz im institutionellen Gefüge des Landes. Im Zuge dieser Reformen, mit denen die Unterentwick-lung der ländlichen Regionen beseitigt werden sollte, erhielten Frauen eine 33-Prozent-Quote in den neuen Gremien.
Das politische Leben wird von den Parteien bestimmt, die allerdings stärker von den Persönlichkeiten ihrer Führer als von der Programmatik geprägt sind. Die Kongresspartei unter der Führung der Nehru-Gandhi Familie hat die politische Entwicklung in den ersten Dekaden geprägt. Erst 1977 wurde die Kongresspartei auf nationaler Ebene abgewählt.
Seit Mitte der 80er-Jahre hat sich die hindu-nationalistische BJP zur zweiten großen Partei entwickelt. Sie führte von 1998 bis 2004 eine Koalitionsregierung. Die dritte wichtige politische Kraft bildet die Communist Party of India/Marxist (CPM). Sie hat ihre Hochburgen in Westbengalen und Kerala. Die CPM unterstützte nach den jüngsten Wahlen vor zwei Jahren die regierende United Progressive Alliance (UPA) unter Führung der Kongresspartei.
Seit den 80er-Jahren haben die Regionalparteien an Bedeutung gewonnen. 2004 entfielen auf die Kongresspartei und die BJP zusammen erstmals weniger als 50 Prozent der Stimmen. Die Regionalparteien konnten ihren Anteil auf über 40 Prozent steigern. Über 30 Parteien schafften damals den Einzug ins Parlament. Aufgrund dieser Entwicklung wird es wohl auch zukünftig zu Koalitionsregierungen unter der Führung einer der großen Parteien kommen.
Die Regionalisierung der Parteienlandschaft spiegelt den sozialen Wandel, den die Indische Union durchläuft. Die hohen Wachstumsraten, die verbesserten Bildungschancen und die Quotenregelungen für die benachteiligten unteren Stammes- und Kastengruppen haben in den vergangenen Jahrzehnten eine „stille Revolution“ in Gang gesetzt, mit der die einstige Vorherrschaft der oberen Kasten allmählich beendet wird. Die Regierungsspitze nach den Wahlen vor zwei Jahren symbolisiert die gesellschaftliche Vielfalt der indischen Demokratie: Präsident Abdul Kalam ist Muslim, Premierminister Manmohan Singh gehört zur Sikh-Gemeinschaft, und die Kongresspartei-Vorsitzende Sonia Gandhi – eine gebürtige Italienerin – ist Christin.
Die größten Herausforderungen für das politische System in Indien sind die nationalen und sozialen Probleme des Landes: Die nationale Integration konnte zwar durch die Umgestaltung der Bundesstaaten, durch Kompromisse in der Sprachenfrage sowie durch rechtliche Privilegien für die religiösen Minderheiten vergleichsweise gut erreicht werden. Eigene Wahlkreise und Quotenregelungen im öffentlichen Sektor haben zudem die wirtschaftliche und politische Integration der unteren Kasten- und Stammesgruppen gefördert.
Doch dem stehen Defizite gegenüber. Landreformen sind bislang nur in wenigen Bundesstaaten umgesetzt worden. Die Mängel im Bildungs- und Gesundheitswesen wirken sich bis heute negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung aus. Die Gerichte sind chronisch überlastet, das Ansehen der Polizei ist schlecht, Korruption und politische Patronage sind allgegenwärtig. Während separatistische Bewegungen heute kaum noch eine Rolle spielen, haben die ungelösten sozialen Probleme zu einem Anstieg militanter maoistischer Gruppen (Naxaliten) geführt, die heute bereits in der Hälfte der Bundesstaaten operieren. Trotz dieser Probleme kann Indien als gefestigte Demokratie gelten. Aufgrund ihrer vergleichsweise stabilen und vor allem akzeptierten Institutionen sollte das Land auch künftig in der Lage sein, innenpolitische Krisen zu meistern. Die damit verbundenen Formen der Auseinandersetzung werden für westliche Beobachter aber weiterhin einen Hauch von Anarchie aufweisen.
Christian Wagner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.