Es kommt nicht allzu häufig vor, dass ein Politiker die Früchte seiner eigenen Arbeit ernten kann - vor allem, wenn es sich nicht um Wahlkampfgeschenke handelt, sondern um tiefgreifende und teilweise schmerzvolle Reformen. Manmohan Singh war dies vergönnt: Der heutige Premierminister Indiens, seit 2004 im Amt, hat als Finanzminister Anfang der 90er-Jahre die Grundlagen für den gegenwärtigen Wirtschaftsboom des Landes gelegt. Überhaupt verkörpert Singh wie kaum ein anderer Politiker des Subkontinents die eindrucksvolle Wandlung Indiens von einem Entwicklungsland in eine aufstrebende ökonomische Großmacht. Zudem weist seine Biografie Elemente auf wie Flicken auf einem Patchwork-Teppich, die Indiens Geschichte der vergangenen 75 Jahre repräsentieren. Dazu gehören seine Ausbildung nach klassisch-britischer Art und seine Angehörigkeit zu einer religiösen Minderheit - jener der Sikhs.
Der heute 73-jährige Singh entstammt einer armen Bauernfamilie, sein Geburtsort Gah liegt im westlichen Pandschab, das heute zu Pakistan gehört. Singh schaffte dank herausragender Noten den Sprung an die Universität und studierte dort Wirtschaftswissenschaften. Als Stipendiat kam er an die englische Elitehochschule Cambridge, die er mit Auszeichnung abschloss. Dank eines zweiten Stipendiums wechselte er an die andere weltbekannte Universität des Landes in Oxford, wo er promovierte. Bereits 1963 erhielt Singh eine Professur in Indien. Zwei Jahre später zog er nach New York, um bei den Vereinten Nationen als Wirtschaftsfachmann zu arbeiten. 1969 ging er als Professor für Internationale Handelsbeziehungen nach Indien zurück.
Anfang der 70er-Jahre kehrte Singh der akademischen Welt langsam den Rücken. Er arbeitete als Berater verschiedener Ministerien, amtierte mehrere Jahre unter anderem als Gouverneur der indischen Zentralbank, Ende der 80er-Jahre wurde er Sekretär der Süd-Kommission der Entwicklungsländer. Wirtschaftspolitisch sympathisierte er zu dieser Zeit mit der radikal-liberalen Wirtschaftspolitik der einstigen britischen Premierministerin Margaret Thatcher.
Sein Sprung auf einen einflussreichen politischen Posten fiel in eine Zeit, in der Indien von politischen Unruhen und schweren wirtschaftlichen Krisen erschüttert wurde. Vor 15 Jahren - am 24. Juni 1991 - wurde Singh zum Finanzminister im Kabinett des Premiers Narasimha Rao berufen. Eine Überraschung, schließlich war der Wirtschaftsexperte als einziges Regierungsmitglied kein Mitglied der regierenden Kongresspartei. Sein Ziel: Die marode Staatswirtschaft, die vor dem Bankrott stand, zu sanieren und eine "dynamische Marktwirtschaft mit sozialem Gewissen" einzuführen - doch ein bisschen sanfter, als dies Thatcher umgesetzt hatte. Fünf Jahre lang hatte er Zeit, die Wirtschaft zu liberalisieren und umzustrukturieren. Das Ergebnis: In seiner Zeit als Minister betrug das ökonomische Wachstum um die sieben Prozent, die Zahl der Arbeitsplätze stieg beträchtlich, ebenso stiegen die Löhne und die Auslandsinvestitionen; die Inflation sank. 1996 verlor die Kongresspartei die Wahlen, und Manmohan Singh verabschiedete sich von der vordersten politischen Bühne - vorübergehend.
Seine Rückkehr dorthin war ebenso überraschend wie sein erster Auftritt 1991. Die designierte Premierministerin Sonia Gandhi verzichtete nach langem Zögern auf ihr Amt; im Mai 2004 ernannte Staatspräsident Abdul Kalam daraufhin - auf Gandhis Vorschlag - Singh zum Premier. Gern erntet er nun die (welt-) politischen Lorbeeren für seine Wirtschaftspolitik der 90er-Jahre, etwa bei der Eröffnung der Hannover-Messe im vergangenen Frühjahr: Die Beteiligung Indiens an der weltgrößten Industriemesse eröffne ein neues Kapitel der deutsch-indischen Beziehungen, erklärte damals Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Am Rande eines anschließenden deutsch-indischen Wirtschaftsgipfels wurden Verträge und Kooperationsabkommen in Milliardenhöhe unterzeichnet.
Manmohan Singhs Regierungsstil ist auffallend dezent. Er gilt als ruhig, wenig charismatisch, bisweilen scheu, und er hält sich weitgehend aus den Niederungen der Politik heraus - ein Gegensatz zum oft populistischen Auftreten vieler seiner Vorgänger. Vor der Parlamentswahl 2004 erklärte Singh gar, er sei nur zufällig Politiker geworden und eigentlich verstehe er von Politik nichts. Die häufigste Charakterbeschreibung für ihn ist "bescheiden". Er genießt Respekt unter den 1,1 Milliarden Indern: Anders als viele indische Politiker war er bisher in keine Korruptionsaffäre verwickelt. Auffallend ist hingegen sein stets blauer Turban: Singh ist der erste Sikh als Premier - und überhaupt der erste Nicht-Hindu in dieser Position.
Trotz allen Ansehens: Vor Manmohan Singh liegen große Herausforderungen. Er muss nicht nur die wirtschaftlichen Reformen weiterführen, sondern auch den Kampf gegen die Armut stärker angehen. Vor der jüngsten Wahl versprach der dreifache Familienvater, nach einem Sieg sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukt für Bildung und fünf Prozent für das Gesundheitssystem zur Verfügung zu stellen. Mit seiner Politik der gemäßigten Reformen steht er nun unter Druck von zwei Seiten: Mehrere hundert Millionen Inder, die unter der Armutsgrenze leben, profitieren vom Wirtschaftswachstum gar nicht, häufig hat sich ihre Lage noch verschlechtert. Wirtschaftsexperten in In- und Ausland hingegen kritisieren, dass neue Reformen nur sehr zaghaft vorangetrieben werden.