Die Ursache des Kaschmir-Konflikts, so lautet ein Bonmot in der indischen Hauptstadt Delhi, sind seine Lösungen. Seitdem das britische Kronjuwel 1947 in zwei Länder geteilt und Kaschmir entzweigeschnitten wurde, beherrscht das Problem von Kaschmir die bilateralen Beziehungen, und auch die Lösungsvorschläge sind dieselben geblieben. Sie sind zudem unbrauchbar, denn sie stehen einander diametral entgegen. Pakistan beansprucht das gesamte Kaschmir und will sich diesen Anspruch durch eine Volksabstimmung unter UNO-Ägide völkerrechtlich absichern lassen. Indien erhebt denselben Anspruch, wobei es sich vom Nachbarn dadurch unterscheidet, dass es in der Praxis mit dem Status quo (er teilt das ehemalige Maharadscha-Königreich in ein pakistanisches und zwei indische Drittel) zufrieden wäre.
Die beiden Länder haben im Streit über diese Lösungen drei Kriege ausgefochten, ohne die "Waffenstillstandslinie", die sich nach dem ersten Waffengang von 1947/48 etablierte, im Wesentlichen zu verändern. Der letzte militärische Zusammenstoß fand im Jahr 1999 statt. Pakistanische Gebirgstruppen besetzten ein Jahr nach den Atomversuchen beider Länder in der Kargil-Region zwischen Srinagar und Ladakh Positionen auf der indischen Seite der Waffenstillstandslinie. Das Oberkommando der Armee unter General Pervez Musharraf hatte darauf spekuliert, dass das Risiko einer Eskalation zu einem Atomkrieg den indischen Nachbarn davon abhalten würde, massiv zurückzuschlagen.
Es gelang Indien jedoch mit Hilfe einer lokal sehr eingegrenzten Reaktion - es wurden zuerst gar keine Bombereinsätze geflogen - die Besetzer zu vertreiben. Zu Hilfe kam ihm dabei die US-amerikanische Diplomatie, die besorgt war, dass sich die verfeindeten Brüder nun auch mit Atomwaffen streiten würden. Präsident Bill Clinton übte massiven Druck auf Islamabad aus - der Premierminister wurde nach Washington zitiert - und stellte den Rückzug der pakistanischen Truppen sicher. Einige Monate später rächte sich der so desavouierte General Musharraf, als er den Premierminister aus seinem Amt - und schließlich aus dem Land - jagte.
Die Unfähigkeit, über den Schatten unvereinbarer Lösungsansätze zu springen, liegt im Selbstverständnis der beiden Staaten begründet. Kaschmir ist eine mehrheitlich von Muslimen besiedelte Region, wenn auch im indischen Teil große hinduistische und buddhistische Minderheiten leben. Für Pakistan ist damit der Anspruch einer Einverleibung evident. Denn es wurde als islamischer Staat gegründet, der die Heimat der Muslime auf dem Subkontinent werden sollte. Solange Kaschmir nicht Teil dieser religiös definierten Nation ist, hat diese ihr Versprechen nicht eingelöst.
Indien dagegen definiert sich als laizistischer Staat, in dem alle Religionsgemeinschaften willkommen sind. Er beherbergt die drittgrößte Zahl von Muslimen weltweit in seinen Grenzen. Wenn Kaschmir verloren geht, fürchtet die Regierung, wird das Bindemittel der "Einheit in der Vielheit" zum Spaltpilz.
Für beide Staaten käme die Aufgabe Kaschmirs damit einer Widerlegung ihrer Staatsidee gleich. Wäre dann nicht ein Status quo, wie ihn Indien insgeheim anstrebt, die logische Lösung? Dies verkennt die zusätzliche Klammerfunktion, die Kaschmir für Pakistan ausübt, seitdem der junge Staat 1971 seinen Ostteil, das neue Bangladesch, verloren hat. Das ethnische Selbstverständnis der Bengalen hatte damals eine stärkere Identitätskraft ausgeübt als ihr islamischer Glaube. Das Trauma des Verlustes eines Fünftels seines Territoriums (und der Mehrheit seiner Bevölkerung) erweiterte sich damals um die Angst, dass mit der ethnischen Vielfalt des Westteils auch der Reststaat auseinanderfallen könnte.
Auch dort herrscht nämlich ein ethnisches Ungleichgewicht, weil sich die Sindhis, Baluchen und Pathanen durch die Pandschabis bevormundet sehen. Diese dominieren mit 60 Prozent der Bevölkerung Politik, Wirtschaft und Armee. Zusammen mit den Mohadschirs, den aus Indien geflüchteten Muslimen, sehen sie sich als Garanten der pakistanischen Nation. Dies erklärt die zentrale Rolle der Armee, die sich als Garantin der territorialen wie der ideologischen Integrität des Landes versteht. Um die zentrifugalen Tendenzen zu bremsen, brachte sie mehrere Verteidigungslinien in Stellung. Die erste war die Eindämmung demokratischer Aspirationen, die zweite die Feindschaft zu Indien, die dritte die Betonung des Islam.
Demokratie, das hatte der Fall von Ostpakistan/Bangladesch gezeigt, war eine gefährliche Option. Denn es waren, so die Logik der Generäle, demokratische Prinzipien wie Wahlen (mit ihrer Logik der Macht der Mehrheit) gewesen, die der ethnischen Lösung den Durchbruch verschafft hatten. Gleichzeitig waren sich die Generäle bewusst, dass die Spitze von Bajonetten keine komfortablen Sitzplätze sind. Die Armee brauchte, um ihre repressive Rolle nach innen zu neutralisieren, die Legitimierung einer lebenssichernden Schutzfunktion nach außen.
Diese lieferte der Nachbar Indien, der als verkappter Hindu-Staat karikiert wurde, der es auf die Zertrümmerung Pakistans abgesehen habe. Kaschmir wurde das Kernsymbol dieser Politik. Dessen Befreiung wurde zum Staatsziel erklärt in der Hoffnung, dass es die internen Differenzen der Gesellschaft und die demokratischen Strömungen übertrumpfen würde. Die Fixierung der nationalen Politik auf Kaschmir ließ sich zudem gut mit religiöser Ideologie koppeln. Die Forderung einer Befreiung Kaschmirs wurde mit dem Ziel der Integration in eine islamische Nation, die "Umma", gerechtfertigt.
Diese religiöse Einfärbung des nationalen Diskurses kam nach dem Verlust von Ostpakistan dem Diktator Zia-ul-Haq zupass. Er machte die Islamisierung des Landes zu einem zentralen Bestandteil seiner Politik, um demokratische Forderungen mit dem Hinweis auf die konservative Tradition des Islam zu neutralisieren. Die islamische "Scharia" wurde zum obersten Gesetz des Landes gemacht, und die mittelalterlichen Rechtspraktiken der "Hadud" wurden in das Regelwerk der Justiz eingeführt. Dies hatte verheerende sozialpolitische Folgen, etwa in der Marginalisierung der Rolle der Frauen.
Die Politik Zia-ul-Haqs führte zur Ausbreitung zahlreicher islamischer Gruppierungen, und diese wurden im Hinblick auf die Befreiung Kaschmirs vom militärischen Geheimdienst ISI auch mit Waffen bedient. Sie hatten eine doppelte Funktion: Sie waren Werkzeuge einer militanten Außenpolitik; nach innen sollten sie die demokratischen Kräfte eindämmen. Die afghanischen Taliban wurden ihr bekanntestes Symbol.
Die Militarisierung islamischer Gruppen blieb für die Innenpolitik nicht ohne Folgen: Sie führte zu regelrechten Sektenkriegen, etwa zwischen der Minderheit der Schiiten und den Sunniten, aber auch zwischen den gemäßigten und den radikalen Sunniten-Schulen. Schließlich machte die Islamisierung auch vor der Armee nicht Halt. Das Aufblühen islamistischer Gruppierungen unter ihrer Obhut stärkte die konservativ-religiösen Kräfte innerhalb der Offizierskaste.
Es war dieses geografische, ideologische und politische Umfeld, in dem sich die Zellenstruktur der Al-Qaida ausbilden konnte. Das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet wurde, toleriert von der pakistanischen Führung, zur Zentrale eines Feldzugs zunächst gegen die USA und Israel, dann gegen Indien, und schließlich gegen die ganze Welt. Der 11. September 2001 wurde dann zu einem Wendepunkt. General Musharraf wurde vor die Wahl gestellt, sich "für oder gegen den Terrorismus" zu entscheiden. Er schloss sich den USA an, zunächst widerwillig. Er dachte, es sei möglich, die Islamisten an der Westgrenze zu Afghanistan zu bekämpfen und sie an der Ostgrenze zu Indien gewähren zu lassen.
Doch diesmal waren es nicht die USA, die den General zwangen, seine Karten offen zu legen. Der militante Untergrund sah im Doppelspiel Musharrafs einen Verrat am "Dschihad". Im Dezember 2003 wurden kurz hintereinander zwei Attentate auf den Präsidenten verübt, denen er nur knapp entging. Dies zwang Musharraf, Farbe zu bekennen. Die wichtigs-ten islamistischen Gruppen wurden auf die Terrorliste gesetzt und verboten. Musharraf entschied sich für eine einvernehmliche Lösung des Kaschmirproblems mit Indien.
Im November 2003 wurde entlang der kaschmirischen Grenzlinie der Waffenstillstand ausgerufen. Es kam zu gegenseitigen Visiten und mehreren Gipfeltreffen mit dem indischen Premierminister. Die Grenzen für Besucher öffneten sich einen Spalt weit, und in zahlreichen Arbeitsgruppen werden inzwischen die vielen bilateralen Probleme auf den Tisch gebracht, von gemeinsamen Bollywood-Projekten über die Ausfuhr von Zwiebeln bis zu vertrauensbildenden Maßnahmen zwischen den Armeen beider Länder.
Drei Jahre später schweigen die Kanonen in Kaschmir immer noch, jede Woche kommt es zu mehreren Expertentreffen, und die wichtigsten Politiker beider Länder versichern sich gegenseitiger Wertschätzung. Präsident Musharraf fordert Inder und Pakistaner auf, "außerhalb festgelegter Schemata" zu denken, wenn das Kaschmir-Problem gelöst werden soll; der indische Regierungschef Manmohan Singh spielt eine ähnliche Saite an, wenn er sagt, statt Grenzen verändern zu wollen, solle man sie irrelevant machen.
Das Erdbeben vom Herbst 2005 wurde eine einmalige Chance, die ausgeleierten Lösungen beiseite zu schieben. Beide Teile Kaschmirs waren schwer heimgesucht worden. Für einige Täler auf pakistanischer Seite waren Rettungsaktionen aus Indien besser zu bewerkstelligen als von der eigenen Seite, Verwundete konnten von Rettungsteams der anderen Seite rascher behandelt werden. Doch es blieb bei Einzelaktionen. Und es zeigte sich rasch, dass selbst eine menschliche Tragödie das eingefleischte Misstrauen der Bürokraten, der Armee und der Islamisten nicht beseitigen konnte. Im pakistanischen Erdbebengebiet begegneten die internationalen Helfer immer öfter Hilfstrupps, die sich als ziviler Arm militanter Organisationen herausstellten. Diese waren nicht nur einsatzfreudig und effizient, sie machten der Bevölkerung wie der internationalen Gemeinschaft rasch klar, dass ihr Einsatz aus islamischer Solidarität ein weiteres Ziel hatte: Zusammen mit der Armee verhinderten sie, dass internationale Hilfsorganisationen zu nahe an die Waffenstillstandslinie zu Indien kamen. Denn dort, so ihre Befürchtung, könnte der Funke der gegenseitigen Hilfe plötzlich auf die Helfer und die notleidende Bevölkerung auf der anderen Seite überspringen. Sie drohte die bald 60-jährige "Mauer" zum Einsturz zu bringen.
Ein knappes Jahr nach dem Erdbeben und drei Jahre nach der Erklärung des Waffenstillstands zeigt sich, dass der Enthusiasmus für eine Lösung "out of the box" auf beiden Seiten am Erlahmen ist. Präsident Musharraf ist isoliert, nicht nur gegenüber den politischen Parteien, sondern auch innerhalb der eigenen Armee. Wie sonst lässt sich erklären, dass die Terrorgruppen, die ihm den Tod geschworen haben, nach ihrem Verbot lediglich eine Namensänderung vornehmen mussten, um dann wie bisher ihren Dschihad weiterzuführen - mit Attentaten in indischen Städten, mit Selbstmordanschlägen in Kaschmir, aber auch gegenüber nicht-sunnitischen Sekten im Innern. Die Zeichen mehren sich, dass Musharraf nicht mehr Herr im eigenen Haus ist, weil starke Kräfte innerhalb des bürokratisch-militärischen Establishments ihm die Gefolgschaft verweigern. Während Qaida-Zellen in Waziristan mit Bomberjets angegriffen werden, werden gleichzeitig Taliban-Kämpfer ebenso wie Kaschmir-Rebellen wieder über die Grenzen nach Afghanistan und nach Indien geschmuggelt.
Indien ist zweifellos mitverantwortlich für diese Entwicklung. Selbst wenn der Wille zu neuen Lösungen vorhanden wäre, erlaubten die demokratischen Strukturen mit ihren zerbrechlichen Mehrheitsverhältnissen keine raschen Änderungen. Es ist aber nicht zu verkennen, dass sich die politische Elite des Landes hinter diesem kommoden Argument versteckt, um am Status quo festzuhalten. Das Recht der Kaschmirer auf mehr Autonomie wird anerkannt, der Besuchsverkehr zwischen indischen und pakistanischen Landsleuten wird tröpfchenweise gefördert, und jede Woche findet irgendwo ein Seminar über alternative Lösungen statt. Doch darüber hinaus wird weder in Delhi noch in Islamabad ernsthaft darüber nachgedacht, wie das Problem Kaschmir - und damit das Verhältnis zwischen zwei Atomstaaten - einer anderen Lösung zugeführt werden könnte als jenen, die seit sechzig Jahren diskutiert werden. Und je mehr sich Delhi im Status quo einrichtet, desto isolierter und weniger handlungsfähig ist in Islamabad Präsident Musharraf.