SRF stellt Fasern für Autoreifen her und beliefert namhafte Produzenten wie Bridgestone und Good Year. "Das Wachstum in unseren Fabriken liegt bei fast zehn Prozent im Jahr", freut sich Ram. Hinsichtlich der Reformen in der indischen Wirtschaft ist der Firmenboss optimistisch. Auch wenn unter der vor zwei Jahren neu gewählten Regierung mit Beteiligung der Kommunisten einiges langsamer laufe, würden Liberalisierung weitergehen. "Das werden Reformen in kleineren Schritten und Dosen", sagt Ram, "gestoppt werden sie aber nicht."
So wie bei dem Autozulieferer SRF boomt derzeit die ganze Wirtschaft. Mit Wachstumsraten von sieben bis acht Prozent gehört Indien zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt. Experten gehen davon aus, dass das Land wegen der günstigen demografischen Verhältnisse dieses Tempo noch einige Jahre aufrechterhalten kann. Rund die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 30 Jahre. Schon im Jahr 2020 dürfte Indien kaufkraftbereinigt zur drittstärksten Volkswirtschaft nach China und den USA aufgerückt sein. Doch es ist gerade mal 15 Jahre her, dass Indien kurz vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch stand. Die Sowjetunion, ehemals Indiens wichtigster Wirtschafts- und Handelspartner, fiel auseinander, und der Subkontinent schlitterte in eine handfeste Zahlungsbilanzkrise. Indiens Devisenreserven waren auf weniger als eine Milliarde US-Dollar zusammengeschmolzen. Sie reichten gerade noch, um die Importe für zwei Wochen zu bezahlen.
Mit dem Rücken zur Wand begann die indische Regierung in den Folgejahren mit umfassenden Wirtschaftsreformen. Unter dem damaligen Finanz- und heutigem Premierminister Manmohan Singh öffnete die Regierung das sozialistisch geprägte Land Schritt für Schritt für den Außenhandel und für Investoren aus dem Ausland. Der in Cambridge ausgebildete Ökonom sorgte dafür, dass private Investitionen erheblich erleichtert wurden. Die Zahl der Wirtschaftssektoren, in denen keine Privatinvestitionen erlaubt sind, wurde auf lediglich zwei reduziert: den Bahnverkehr und die Atomenergie. Darüber hinaus schaffte die indische Regierung das viel kritisierte System der Industrielizenzen ab: Bis zum Jahr 1991 musste jeder, der einen Industriebetrieb eröffnen wollte - und war er noch so klein - eine staatliche Lizenz beantragen. Ende Juli 1991 setzte Singh das antiquierte System weitgehend außer Kraft.
Zudem wurden Investitionen aus dem Ausland ab 1991 deutlich erleichtert. So hob die Regierung die Obergrenze von 40 Prozent für Beteiligungen aus dem Ausland an indischen Unternehmen für die allermeisten Branchen auf. Hier konnte die indische Zentralbank ohne Rücksprache mit der Regierung fortan Beteiligungen von bis zu 51 Prozent genehmigen. In den Folgejahren lockerte die Regierung die Beteiligungsobergrenze für eine Reihe von Industriezweigen auf 74 Prozent. In den so genannten Sonderwirtschaftszonen und Exportzonen ermöglichte sie ausländischen Unternehmen sogar die Gründung hundertprozentiger Tochtergesellschaften. Heute sind diese in vielen Branchen auch außerhalb der Sonderzonen möglich.
Auch beim Außenhandel setzte die indische Regierung weitreichende Änderungen durch. Mussten sich indische Unternehmen bis Anfang der 90er-Jahre den Import von Waren aller Art durch die Regierung genehmigen lassen, können die Firmen heute unbeschränkt Güter aus dem Ausland einführen. Ausnahmen bestehen lediglich noch für einige Rohstoffe, Getreide und petrochemische Produkte. Darüber hinaus begann die Regierung im Sommer 1991, die Zölle auf breiter Front zu senken. Lag der Spitzenzollsatz bis dahin noch bei 355 Prozent, fiel er bis 1994 auf 85 Prozent, zwei Jahre später auf rund 50 Prozent. Heute steht er bei weniger als 25 Prozent - und die indische Regierung führt die Zölle weiter zurück.
Der Erfolg der Reformpolitik ließ nicht lange auf sich warten. Zwischen 1990 und dem Jahr 2000 stieg der Anteil der Ausfuhren an der indischen Wirtschaftsleistung von 7,3 Prozent auf 14 Prozent. Der Beitrag, den der indische Außenhandel zum Bruttoinlandsprodukt beisteuert, kletterte von 17,2 Prozent auf mehr als 30 Prozent. Die Öffnung der indischen Wirtschaft sorgte darüber hinaus für ein kräftiges Wachstum im Dienstleistungssektor. Während der 80er-Jahre lag das Wachstum noch bei weniger als sieben Prozent. In den 90er-Jahren kletterte es auf über acht Prozent. Vor allem das Geschäft mit Finanz- und Kommunikationsdienstleistungen begann zu boomen.
Eher enttäuschend waren dagegen die Ergebnisse in der Industrie. Das Wachstum fiel in den 90er-Jahren auf durchschnittlich 6,4 Prozent von durchschnittlich 6,9 Prozent in den 80er-Jahren. Der Grund: Die Regierung ließ die rigiden indischen Arbeitsgesetze bei ihren Reformen unberührt. Betriebe mit mehr als 100 Mitarbeitern müssen auch heute noch eine Genehmigung der Regierung einholen, wenn sie Mitarbeiter entlassen wollen. Die Folge der Politik ist, dass Dienstleistungen heute mehr als die Hälfte zur indischen Wirtschaftsleistung beisteuern, die Industrie dagegen nur knapp ein Drittel. Weil aber Jobs auf breiter Front nur in der Industrie entstehen, verharrt die Arbeitslosigkeit auf anhaltend hohem Niveau.
Gleichwohl haben die Öffnung der indischen Wirtschaft und die Reformen vor allem dazu geführt, dass ausländische Unternehmen heute Schlange stehen, um Einlass in den riesigen Markt mit seinen 1,1 Milliarden Menschen zu bekommen. Allein in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres haben Unternehmen aus Europa und den USA Investitionen in Höhe von 19 Milliarden US-Dollar für die kommenden Jahre angekündigt. Bisher flossen jedes Jahr zwischen vier und sechs Milliarden US-Dollar ausländische Direktinvestitionen nach Indien.
"Da müssen jedes Jahr noch zwölf Milliarden Dollar drauf", meint Montek Singh Ahluwalia, stellvertretender Vorsitzender der staatlichen Planungskommission und ein enger Berater von Premierminister Singh. Denn: China, der große Nachbar im Norden und die unangefochtene Nummer Eins unter den Investitionsstandorten, verbuchte im vergangenen Jahr gut 62 Milliarden Dollar an ausländischen Direktinvestitionen.
Nach jüngsten Erhebungen der Beratungsgesellschaft A.T. Kearney ist Indien inzwischen das zweitattraktivste Ziel für Direktinvestitionen noch vor den USA. Vor allem die niedrigen Lohnkosten und das riesige Reservoir an gut ausgebildeten, englisch sprechenden Fachkräften sorgen für steigendes Interesse. Bei der Herstellung von Maschinen, medizinischen Geräten oder Elektrogeräten lassen sich in Indien zwischen 40 und 60 Prozent der Kosten sparen. Hinzu kommt, dass Indien, nachdem es bisher vor allem als Outsourcing-Standort für Dienstleistungen gefragt war, zunehmend an Attraktivität für die verarbeitende Industrie gewinnt.
Das kräftige Wirtschaftswachstum und die rasch wachsende kaufkräftige Mittelschicht zieht auch immer mehr deutsche Unternehmen nach Indien. Zwar lagen die deutschen Investitionen zwischen April 2004 und Januar 2005 noch bei bescheidenen 145 Millionen US-Dollar. Doch "seit gut anderthalb Jahren beobachten wir ein steigendes Interesse", sagt Bernhard Steinrücke, Leiter der Deutsch-Indischen Handelskammer in Bombay. Zwischen April vergangenen Jahres und Januar 2006 verbuchten die indischen Behörden denn auch bereits 286 Millionen US-Dollar deutscher Direktinvestitionen - fast eine Verdopplung.
Der deutsche Autovermieter Sixt etwa ist Ende vergangenen Jahres mit 50 Wagen in Indien an den Start gegangen und will die Zahl in diesem Jahr auf 500 steigern. Sixt profitiert von der kürzlich beschlossenen Privatisierung der Flughäfen in Delhi und Bombay. "Dann können wir da mit unseren Büros rein", freut sich Hans Knottnerus, Chief Operating Officer in Delhi, "das bringt richtig Wachstum." Der Nutzfahrzeughersteller MAN hat gerade ein Joint Venture mit dem indischen Unternehmen Force Motors gegründet (Investitionsvolumen: 150 Millionen Euro), um in Pithampur bei Indore schwere Lkws zu produzieren. Mittelfristig sollen jedes Jahr 24.000 Trucks von den Bändern laufen. In Zukunft wollen die Deutschen die Zusammenarbeit mit Force Motors auf das Busgeschäft ausweiten.
Die deutschen Unternehmen, die schon länger in Indien präsent sind, weiten ihre Aktivitäten kräftig aus. Bosch, größter Autozulieferer in Indien, will in den nächsten Jahren 200 Millionen Euro in die Erweiterung der Kapazitäten stecken. Der boomende Automobilmarkt wächst derzeit mit Raten von 15 bis 20 Prozent jährlich. Erst kürzlich hat BMW den Grundstein für ein 18,5 Millionen-Euro-Werk in der Nähe von Chennai, dem früheren Madras, gelegt.
Auch Siemens ist auf Expansionskurs. Der Konzern betreibt in Indien 14 Fabriken mit 12.000 Beschäftigten und will bis Ende kommenden Jahres eine halbe Milliarde Dollar auf dem Subkontinent investieren. Vor allem beim Ausbau der Infrastruktur rechnen sich die Münchner Chancen aus. Doch für Siemens gewinnt Indien auch als Fertigungsstandort für andere Länder an Bedeutung. In nur drei Jahren stieg der Exportanteil von null auf 15 Prozent. Siemens-Indien-Chef Jürgen Schubert peilt für die nächsten Jahre 30 Prozent an, vor allem die Märkte in Südasien und der Golfregion hat er im Visier. Ihre Expansion finanzieren viele ausländische Unternehmen in Indien aus den im Land erzielten Erträgen. Bei einer Umfrage des indischen Unternehmerverbandes FICCI im vergangenen Jahr gaben 70 Prozent der Firmen an, schwarze Zahlen zu schreiben, Verluste machten gerade mal 18 Prozent.
Mit die weitreichendsten Folgen hatte die indische Reformpolitik allerdings für den Luftverkehr auf dem Subkontinent. Seit die indische Regierung den Luftfahrtmarkt 2003 vollständig öffnete, herrscht ein gnadenloser Preiskampf, nie war Fliegen in Indien billiger. Möglich wurde dies durch eine ganze Reihe privater Airlines. Die beiden größten Unternehmen, Jet Airways und Air Sahara, die kürzlich ihre Fusion bekanntgaben, greifen die Staatsairlines Air India und Indian Airlines, die demnächst ebenfalls zu einer Gesellschaft verschmolzen werden sollen, mit niedrigen Festpreisen auch auf den Routen nach London, in den arabischen Raum und Thailand an.
Am schärfsten ist der Wettbewerb aber in Indien selbst. Nachdem in den vergangenen Jahren Fluglinien wie Air Deccan, Spice Jet und Kingfisher Airlines den Betrieb aufgenommen haben, stehen jetzt zehn weitere am Start, den Markt mit Billigangeboten aufzumischen. Flüge zwischen Abu Dhabi und Bombay gibt es für weniger als 100 US-Dollar und von Delhi nach London für 529 US-Dollar. Auf Inlandsstrecken zahlt man bei Billigfliegern selten mehr als 50 US-Dollar. Vor zehn Jahren war Fliegen fünf Mal so teuer. Vor allem die wachsende indische Mittelschicht hat die Lust am Fliegen gepackt. 2005 haben indische Fluggesellschaften 19 Millionen Passagiere transportiert, fast 30 Prozent mehr als im Vorjahr. Auch in den nächsten fünf Jahren soll das Wachstum nach Schätzungen der Beratungsfirma Center for Asia Pacific Aviation bei rund 25 Prozent liegen. So schnell wächst sonst nur noch der Luftverkehr in China.
Das Potenzial ist laut CAPA-Geschäftsführer Kapil Kaul noch lange nicht ausgeschöpft. "Bislang hat erst ein Prozent der indischen Bevölkerung überhaupt in einem Flugzeug gesessen", sagt er. In einer beispiellosen Einkaufstour haben die indischen Airlines ihre Flotten mit neuen Flugzeugen ausgestattet. Boeing und Airbus haben deshalb ihre Prognosen für den indischen Markt nach oben revidiert.
Flugzeuge haben die Airlines, Passagiere auch. Was ihnen am meisten fehlt, sind Piloten. In Indien gibt es mindestens 500 professionell ausgebildete Flugkapitäne zu wenig. Und noch schwerwiegender: Es fehlen ebenso hunderte Fluglotsen. "Die vorhandenen Flug-lotsen arbeiten oft vollkommen übermüdet. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es kracht", sagt der Mitarbeiter einer indischen Fluggesellschaft.
Neben der mangelnden Sicherheit bekommen die Passagiere auch die Infrastrukturprobleme des Landes zu spüren. Zum Beispiel auf dem Indira-Gandhi-Flughafen in Delhi. Mehrstündige Verspätungen aufgrund technischer Probleme oder Überlastung sind alltäglich. Im Winter kommt der Hauptstadt-Flughafen schon mal wegen Nebel stundenlang zum Stillstand. Eine Situation, die sich auch in den nächsten Jahren kaum verbessern dürfte. Denn den staatlichen Flughafenbetreibern fehlt das Geld für neue Terminalgebäude, Rollbahnen und Gepäckförderbänder, von Ausbildungsstätten für neue Piloten ganz zu schweigen. Nach jahrelangem Streit mit Gewerkschaften sollen die Flughäfen Delhi und Bombay demnächst zwar privat betrieben werden, in der indischen Hauptstadt vom deutschen Fraport-Konzern. Doch bis die Flughäfen auf dem Stand der Landeplätze in Paris, München oder Schanghai sind, wird es wohl noch bis 2010 dauern.
Geduld brauchen auch ausländische Unternehmen, denn die indische Regierung zögert trotz aller Reformanstrengungen die Öffnung weiterer Branchen immer noch hinaus. Allianz beispielsweise kann seine Beteiligung an dem Joint Venture mit dem indischen Versicherer Bajaj nicht erhöhen, weil der Gesetzgeber nicht mehr erlaubt. Der Einzelhandel ist für ausländische Unternehmer sogar gänzlich verschlossen. Hersteller wie Boss, Benetton oder Adidas können seit kurzem zwar Geschäfte eröffnen, wo sie Produkte ihrer Marke verkaufen dürfen. Für internationale Supermarkt-Ketten wie Wal-Mart, Carrefour oder Tesco mit ihren breiten Sortimenten ist das Tor zum Wachstumsmarkt Indien aber noch immer verschlossen.
Nur die deutsche Metro, die ausschließlich an Geschäftskunden verkauft, hat es geschafft. Seit 2003 betreibt der Düsseldorfer Konzern zwei Cash&Carry-Märkte in Bangalore. Das Geschäft läuft gut: Der Umsatz stieg von 39 Millionen Euro 2004 auf 58 Millionen Euro im vergangenen Jahr. Nun plant der Konzern weitere Märkte in Kalkutta, Haiderabad und Bombay.
Singh-Berater Montek Singh Ahluwalia weiß: "Unsere Politik muss noch unternehmerfreundlicher werden." Allerdings muss die Regierung Rücksicht auf die Kommunisten nehmen, auf deren Stimmen sie im Parlament angewiesen ist und die sich als Vertreter der 300 Millionen Armen im Land verstehen. Bei einer Öffnung des Einzelhandels für ausländische Konzerne fürchten sie ein Massensterben der kleinen Tante-Emma-Läden. Ginge es nach Singh, würde die Branche für Ausländer geöffnet.
Doch die Liberalisierung findet inzwischen auch Rückhalt im Volk. Als beispielsweise Anfang Februar das Personal gegen die geplante Privatisierung der Flughäfen in Delhi und Bombay streikte und der Betrieb ruhte, kam es zu heftigen Protesten in der Bevölkerung. Privatleute wollten weiter Verwandte und Freunde besuchen, Geschäftsleute ihren Besorgungen nachgehen. Nach zwei Tagen war der Streik vorbei.
Matthias Kamp ist Redakteur für Wirtschaft und Politik Asiens bei der "WirtschaftsWoche".