China sei die verlängerte Werkbank, Indien der verlängerte Schreibtisch multinationaler Konzerne - so werden die Wirtschaftsmodelle der beiden großen Schwellenländer oft beschrieben. Indien möchte sich mit dieser Rollenverteilung nicht zufrieden geben. Indische Industriepolitiker beschäftigen sich seit langem mit der Frage, wie sie aus ihrem Land einen attraktiven Produktionsstandort machen können. Die Frage ist zum Teil gelöst: Mit dem Aufschwung kamen auch die internationalen Hersteller - wegen der Größe des Marktes lohnt sich eine Produktion vor Ort. Für den Export produzieren jedoch die wenigsten, Indiens Anteil am weltweiten Warenexport liegt bis heute unter einem Prozent.
Die Zauberformel, mit der dieser Anteil gesteigert werden soll, kommt aus China und heißt Sonderwirtschaftszone. Auch wenn Indien bereits in den 60er-Jahren mit dieser Form der Industrieförderung experimentiert hatte, gelang es doch erst China in den 80er-Jahren, in solchen Zonen einen bürokratie- und steuerbefreiten Raum für Exportproduzenten zu schaffen. An diesen Erfolg will Indien mehr als 20 Jahre später anknüpfen: Seit der Verabschiedung des neuen Sonderwirtschaftszonengesetzes im Februar hat die Regierung mehr als 100 Anträge potenzieller Investoren bekommen.
Indiens größter privater Industriekonzern gibt den Takt vor. Reliance Industries möchte sich als Investor gleich am Aufbau zweier Zonen beteiligen: die eine in der Nähe von Bombay, die andere in Gurgaon, einer Satellitenstadt von Delhi, die schon heute das bietet, was die Hauptstadt an Einkaufsrausch und Nachtleben vermissen lässt. Handelsminister Kamal Nath schätzt, dass bis Ende des Jahrzehnts eine halbe Million neuer Arbeitsplätze in den Zonen entstehen werden. Ermutigt von solchen Prognosen hat die Regierung in der Neufassung des Zonengesetzes die Steuerbefreiung von Investoren von zehn auf 15 Jahre verlängert.
Finanzexperten sehen jedoch die Gefahr, dass der defizitäre Staatshaushalt diesem Plan nicht gewachsen sein könnte. "Wir glauben, dass der Verlust von Steuereinnahmen zu einer Zeit, da das Defizit ohnehin schon hoch ist, keine gute Idee ist", heißt es in einer Studie der Investmentbank JP Morgan Stanley. Nach Schätzung des Finanzministeriums könnten die Zonen dem Staat künftig einen jährlichen Einkommensverlust von rund einem halben Prozent des Bruttoinlandsproduktes bescheren. Dahinter steht die Vermutung, dass Unternehmen, die sowieso in Indien investiert hätten, bei Expansionsplänen in die Zonen ausweichen - zumal andere Steuererleichterungen, vor allem in der Softwareindustrie, 2009 auslaufen werden. Die Zonen böten ohnehin keine zeitgemäße Lösung für Indiens Probleme, machen andere Gegner geltend. Die Liberalisierung der Volkswirtschaft mache Sonderwirtschaftszonen überflüssig, zitierte der "Economist" den Wirtschaftsexperten Bibek Debroy. Auf viele Investorenklagen hat das Konzept sowieso keine Antwort: Die schlechte Infrastruktur behindert den Abtransport der Ware auch aus Sonderwirtschaftszonen. Außerdem konnte die Regierung gegen die linken Parteien im Parlament eine Lockerung des Kündigungsschutzes in den Zonen nicht durchsetzen. Die Analysten von JP Morgan Stanley sehen noch eine Schwierigkeit: Die Mindestgrößen der Zonen seien zu gering, die Gefahr einer Zersplitterung sei daher groß. Selbst die geplante Zone in Gurgaon sei mit 10.000 Hektar noch weit kleiner als die chinesischen Vorbilder in Shenzhen, Xiamen oder Zhuhai.