Kaum jemand weiß, woher er kam. Aus dem blauen Dunst scheint der Begriff aufgetaucht zu sein, der durch die Wirtschaftsspalten geistert: Chindia. Es klingt wie eine Verheißung. Der Neologismus beschwört eine ökonomische Einheit der asiatischen Riesen herauf, die heute ein Drittel der Weltbevölkerung umfassen und das höchste Wirtschaftswachstum aufweisen. Gelingt es China und Indien, das riesige Potenzial auszuschöpfen, gehört das 21. Jahrhundert ihnen.
Die Vorstellung berauscht die Asiaten und ängstigt den Rest der Welt. Wenn die beiden Länder das vorgelegte Entwicklungstempo zu halten vermögen, wird die Volksrepublik bis ins Jahr 2050 die USA als größte Wirtschaftsmacht abgelöst und Indien die Bundesrepublik vom dritten Platz verdrängt haben. Gemeinsam würden sie die Hälfte aller Waren weltweit produzieren.
Es bleibt dahingestellt, ob sich die optimistischen Prognosen bewahrheiten werden oder nicht - man braucht kein Prophet zu sein, um vorauszusehen, dass sich das wirtschaftliche Schwergewicht aufgrund der schieren Bevölkerungsmasse in Richtung Asien verschieben wird. Und die smarte Wortkreation Chindia, die die amerikanische Finanzpublikation "The Complete Investor" urheberrechtlich hat schützen lassen, klingt verlockend. China ist heute Indiens zweitgrößter Handelspartner nach den USA, und der bilaterale Warenaustausch legt Jahr für Jahr gewaltig an Umfang zu. Die beiden Länder deswegen zu einer Einheit hochzustilisieren, besitzt jedoch so viel Logik, wie die USA und China aufgrund ihres großen Handelsvolumens zu "natürlichen Partnern" zu erklären. Und die Geschichte Indiens und Chinas lässt es unwahrscheinlich erscheinen, dass die beiden Nachbarländer zu einer Wirtschaftsunion zusammenwachsen werden. Denn ihre politischen und strategischen Interessen sind grundverschieden.
Chindia ist ein Unwort, ein Phantasiegebilde, das über die Vielschichtigkeit der Beziehungen zwischen den beiden Ländern hinwegtäuscht. Gewiss, Pandit Nehru, Indiens erster Premierminister, der eine block-freie Außenpolitik verfolgte, begrüßte die von Mao Tse-Tung 1949 ausgerufene Volksrepublik. "Hindi-Chini Bhai Bhai" - "Inder und Chinesen sind Freunde" - lautete der Slogan in Hindi, bis die chinesische Volksbefreiungsarmee 1962 im Norden Indiens einmarschierte. Der unerwartete Grenzkrieg zerstörte die freundlichen nachbarschaftlichen Gefühle. Delhi baute sein atomares Waffenarsenal nicht zuletzt als Abwehr gegen den großen Nachbarn auf. Zwischen den beiden Hauptstädten herrschte jahrzehntelang eisiges Schweigen. Die indischen Langstreckenraketen sind bis heute auf die Volksrepublik jenseits des Himalajas ausgerichtet, die Armeen beider Länder stehen sich an der gemeinsamen Grenze noch immer gegenüber und die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen den beiden Völkern sind bescheiden.
Lediglich wirtschaftlicher Pragmatismus auf beiden Seiten half, die unterkühlten Beziehungen in den vergangenen Jahren ein wenig aufzutauen. So haben billige Produkte "made in China" auch den indischen Markt erobert, von Plastikstatuen hinduistischer Gottheiten und Bollywood-Schlager singenden Puppen über seidene Stoffe und pharmazeutische Produkte bis hin zu Ventilatoren und Computern. Wer angesichts der breiten Warenpalette einen chinesischen Handelsüberschuss vermutet, liegt jedoch falsch. Der Export von Eisenerz und Stahl, Baumwolle und Milchprodukten, Plastik und Linoleum sichert Indien ein Plus.
Amerikanische und europäische Manager und Analysten schwärmen, dass sich indische Software und chinesische Hardware nachgerade ideal ergänzen. Multinationale Konzerne wie Siemens lassen Produkte, die in Indien entwickelt worden sind, in der Volksrepublik herstellen. Chinesische Unternehmen vergeben jedoch keine Forschungsaufträge ins Nachbarland. Finanzielle und nationalistische Erwägungen verbieten es. Pekings politische Bemühungen zielen darauf, das indische IT-Erfolgsmodell zu kopieren. Delhi seinerseits muss die industrielle Entwicklung forcieren, wenn es den großen Sprung an die wirtschaftliche Spitze schaffen will. Die nötige Verbesserung der maroden Infrastruktur ist ein gefundenes Geschäft für Singapur und Malaysia. Die beiden südostasiatischen Zwerge zählen zu den wichtigsten Wirtschaftspartnern des Riesenlandes, das den Anschluss sucht.
Der Maßstab, an dem das indische Milliardenvolk die eigenen Fortschritte misst, ist jedoch China. Der Vergleich mit der Volksrepublik wird bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit bemüht. Die Besessenheit lässt Bewunderung, Unsicherheit und Rivalität erkennen. Nur gut zwei Jahrzehnte ist es nämlich her, dass beide Länder ein Bruttoinlandsprodukt von kümmerlichen 300 Dollar aufwiesen. Beide waren wirtschaftlich abgeschottet. Dann entfesselte Deng Xiaoping den chinesischen Markt. Die Regierung in Delhi folgte dem Beispiel mit einer Dekade Verzögerung. Heute ist die chinesische Volkswirtschaft zweieinhalb Mal so groß wie die indische, zieht zwölfmal mehr Investitionen aus dem Ausland an - und das Pro-Kopf-Einkommen ist mit 1.090 Dollar doppelt so hoch wie in Indien. Die Volksrepublik ist der größten Demokratie der Welt wirtschaftlich in den meisten Belangen voraus. Inder pflegen die Ausnahmen als Beweis anzuführen, dass sie das Potenzial zum Gleichziehen, wenn nicht sogar zu mehr, besitzen: Die Software-Industrie und die 23 Milliardäre sprechen für blitzgescheite Köpfe und unternehmerisches Flair.
Das Milliardenvolk will nach oben, so viel steht fest, aber das Land leidet an chronischem Energiemangel. Die Fabriken haben mit durchschnittlich 17 Stromunterbrechungen im Monat zu kämpfen. Kohle und Kuhdung, die gebräuchlichsten Brennstoffe indischer Haushalte, eignen sich schlecht, eine ökonomische Aufholjagd zu betreiben. Die eigenen Öl- und Gasvorkommen sind jedoch so beschränkt, dass das Land schon jetzt zwei Drittel seines Bedarfs mit Importen deckt, vorwiegend aus den Golfstaaten. Die Vereinigten Arabischen Emirate sind der drittgrößte Handelspartner: Den Wert des eingeführten Erdöls wiegt Indien mit der Lieferung von Reis, Tee und Gewürzen, Geflügel, Gemüse und Obst mehr als auf. Es ist für die Ölscheiche aber nur ein Kunde unter anderen.
Indien muss dringend neue Quellen erschliessen, um den wachsenden Energiehunger der aufstrebenden Wirtschaft zu stillen. In China sieht es nicht viel anders aus. Konflikte sind programmiert, weil alle Ressourcen zusammen schlicht nicht reichen, den Indern und Chinesen einen so hohen Konsum wie den Europäern oder den Amerikanern zu erlauben. Die Preise auf dem Weltmarkt sind nicht von ungefähr in den vergangenen Monaten in die Höhe geschnellt: Die Nachfrage übersteigt derzeit das Angebot. Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass die Energiefrage die indische Außen- und Wirtschaftspolitik zu weiten Teilen bestimmt. Das geplante Nuklearabkommen mit den USA, das es Indien ermöglichen soll, atomare Technologie für zivile Nutzung im Ausland zu erwerben, ist ein Versuch der Regierung in Delhi, das Problem anzugehen, ein anderer ist die Pipeline-Diplomatie.
Indien hat das Netz weit gespannt auf der Jagd nach Energie. Die staatliche Ölgesellschaft zapft ferne Quellen in Venezuela und dem Sudan an. Ein ambitioniertes Projekt der Regierung sieht vor, fünf mehrere tausend Kilometer lange Gas-Pipelines zu bauen. Kosten: schätzungsweise 22,5 Milliarden Dollar. Der Plan, flüssiges Gas in einer Pipeline vom Iran über Pakistan nach Indien zu führen, löst in Washington mehr als Unbehagen aus. Der von Präsident George W. Bush vorgeschlagene Nuklearvertrag gilt als Versuch, Delhi von dem Geschäft mit Teheran abzubringen. Ob mit Erfolg, muss sich erst erweisen: So lange der US-Kongress das umstrittene Abkommen nicht ratifiziert, hütet sich Premierminister Singh, verbindliche Zusagen zu machen.
Die Regierung in Delhi trifft Vorbereitungen, mit dem Bau der ersten Pipeline von Burma über Bangladesch zu beginnen. Das Vorhaben läuft den Bemühungen der USA und der EU entgegen, das burmesische Militärregime zu isolieren. Die Liste der Geschäftspartner, die sich Indien auf der Suche nach Energiequellen angelacht hat, verträgt sich schlecht mit den Argumenten, mit denen es um einen Sitz im Weltsicherheitsrat wirbt: Es porträtiert sich selbst als demokratischen Musterstaat und verantwortungsbewusste Großmacht. Der Sudan, der Iran und Burma besitzen indes Regime, die sich mit ihrer Politik international ins Abseits manövriert haben. Die meisten anderen Länder boykottieren die Pariastaaten. Delhi aber füllt ohne Skrupel die Lücken, die der Abzug der westlichen Unternehmen hinterlassen hat.
Im Werben um die Gunst der Potentaten ist es freilich nicht allein: Ein großer Konkurrent erwächst ihm gemeinhin in Peking. Die beiden staatlichen Ölgesellschaften haben einander in der Vergangenheit jeweils überboten und den Preis damit in die Höhe getrieben. Nun haben die beiden Regierungen beschlossen, bei der Erschließung neuer Energiequellen in Zukunft zusammenzuarbeiten - zum eigenen Vorteil, wie sich versteht.