In jungen Jahren war Nandan Nilekani Sozialist - heute verkauft er als Chef des bekanntesten indischen Technologieunternehmens "ein globales Liefermodell" als revolutionären Ansatz. Nilekani ist besessen von Geschäftsmodellen - und redet am liebsten von seinem eigenen: Infosys' "globales Liefermodell" dient dem Chef des bekanntesten indischen Technologieunternehmens als Glaubensbekenntnis. Den weltweiten Verkauf billiger IT-Dienste "Made in India" preist er als fundamental neuen Ansatz. Der leiseste Verdacht, jemand verkenne die revolutionäre Kraft dieses Geschäftsmodells, lässt Nilekani mit dem Finger wackeln, den buschigen Schnurrbart hochziehen, "nein, nein, nein, nein!" rufen und Besucher wie Schulbuben schelten, die das Einmaleins nicht begreifen.
"Die Technologie-Branche befindet sich in einem fundamentalen Umbruch", doziert er mit dem ihm eigenen Ungestüm, "daraus erwachsen neue Marktführer, und wir werden dazuzählen." Umgewälzt wird die Industrie von Firmen wie Infosys aus Bangalore und ihren Lokalrivalen TCS, Wipro oder Satyam. Diese fingen als erste an, Kostenvorteile von Niedriglohnländern nicht nur für die Herstellung von Gütern zu nutzen, sondern auch für den Vertrieb von Dienstleistungen. Damit haben sie eine neue Front der Globalisierung eröffnet. Die Digitalisierung von Büroarbeit und schnelle, billige Datenleitungen machen anspruchsvolle Dienstleistungen heute genauso leicht über Grenzen handelbar wie Industriegüter. Davon profitiert kein Land mehr als Indien. Dort landet jeder zweite Arbeitsplatz der Branche, der aus dem Westen abwandert.
Nilekani schlüpft gerne in die Rolle des kreativen Zerstörers. Er ist überzeugt, dass Indiens IT-Dienstleister mit ihrem Offshoring-Konzept die Spielregeln der Branche umgeschrieben haben, und zwar weltweit. Kostendruck durch Konkurrenz aus Indien zwingt etablierte Riesen wie IBM und Accenture dazu, ihre Entwicklungskapazitäten in dem Land ebenfalls stark auszubauen. IBM zum Beispiel verfünffachte dort die Zahl seiner Mitarbeiter innerhalb von drei Jahren von 9.000 auf derzeit 43.000. Gleichzeitig entließ der Konzern massenhaft Mitarbeiter in Europa. Accenture, EDS, Hewlett Pack-ard und Cap Gemini rekrutieren ähnlich fieberhaft in Indien. Die massive Verlagerungswelle bei Dienstleistungen markiert für Nilekani eine wirtschaftshistorische Zäsur: "Das ist eine destabilisierende Kraft, die den Weltmarkt aufrüttelt", erklärt der Infosys-Chef, "alle Firmen spüren die Auswirkungen." In dem Eifer, mit dem er sich
an Verwerfungen und Umbrüchen berauscht, findet eine Jugend als linker Rebell ihren späten Nachhall. Als Student verfocht der angehende Elektroingenieur in den 70er-Jahren noch einen planenden Mutter-Staat-Ansatz als Garanten für gerechte Entwicklung. Heute verwendet der 51-Jährige seinen umstürzlerischen Elan darauf, die IT-Branche mit den Mitteln des globalen Kapitalismus umzukrempeln. Dessen Kraft schafft, was Indiens sozialistische Experimente schuldig blieben: "Die IT-Industrie hat unserem Land weltweite Anerkennung eingetragen", sagt Nilekani stolz, "und sie schafft Millionen Jobs für junge, gebildete Menschen."
Der mit Offshoring einhergehenden Nivellierungsprozess verteilt Reichtum von Nord nach Süd um. Das findet er zutiefst gerecht. Nilekani lässt gerne wissen, dass er Stichwortgeber und Ideenlieferant für Thomas Friedmans Globalisierungs-Bestseller "Die Welt ist flach" war. Der Titel des Buchs geht auf eine Grundüberzeugung des Inders zurück: "Die Welt hat sich verändert", glaubt er. Menschen mit vergleichbarer Qualifikation hätten nun Zugang zu den selben Berufen, egal ob sie in Indien sitzen oder in den USA. Das werde den Trend zur Verlagerung von Arbeit in Niedriglohnländer am Leben halten. "Bis die Welt flach geworden ist und Entwicklungsunterschiede eingeebnet sind." Europäer sind seiner Meinung nach dabei, jenen Wissensvorsprung zu verlieren, der lange das Fundament ihres Wohlstands bildete.
Dass ihr Kontinent darauf statt mit einer Bildungsoffensive mit Lähmung reagiert, quittiert Nilekani mit Achselzucken. "Die vollen Konsequenzen sind dem Westen noch immer nicht klar." Gerade Europa werde sich der Globalisierung viel stärker stellen müssen. Nilekanis Mission lautet, durch hohes Wirtschaftswachstum Reichtum für möglichst viele Inder zu schaffen. Sein Lebensweg illustriert die unternehmerische Kraft, die in dem Land entfesselt worden ist: Zusammen mit dem heutigen Chairman Narayana Murthy und fünf Bekannten hatte er 1981 Infosys gegründet. Die Pioniere liehen sich 300 Dollar Startkapital von ihren Ehefrauen. Das reichte nicht einmal für einen eigenen Computer. Auf eine Telefonleitung warteten die Gründer Monate. Ihre Geschäftsidee musste damals vielen schrullig erscheinen: der Verkauf billiger Software an den Westen. Doch seit sich das Land 1991 der Marktwirtschaft und dem Welthandel öffnete, explodieren Umsatz und Gewinn. Selbst in den schlechtesten Jahren wuchs das Geschäft mit 30 Prozent. 1999 belief sich der Umsatz erst auf 129 Millionen US-Dollar. Inzwischen wurde die Schwelle von zwei Milliarden Dollar durchbrochen, und von Infosys' Nettogewinnmarge - 26 Prozent - können westliche IT-Firmen nur träumen.
Als Ikone des "neuen Indiens" hat Infosys Teil am Imagewandel des Landes weg von Gurus und Slums zur aufstrebenden Technologie-Nation, die dem Westen Arbeitsplätze streitig macht. Groß und reich geworden ist das Unternehmen durch den Handel mit Indiens kostbarster Ressource: Wissen. Es entwickelt Software, verwaltet Datenbanken und wartet Computersysteme. Zudem nimmt es Firmen Büroarbeiten ab von der Telefonauskunft über Auftragsverwaltung bis zur Rechnungsprüfung. Zunehmend bieten die Inder auch Ingenieur-Dienste sowie Forschung und Entwicklung an. Zu den Kunden zählt das "who is who" der Deutschland AG: die Deutsche und die Dresdner Bank, DaimlerChrysler, BMW, Adidas, Siemens, Porsche, SAP und die Deutsche Post.
Nilekani wirkte in dem rasend wachsenden Konzern lange im Verborgenen. In den Anfangsjahren programmierte er selbst, Mitte der 80er-Jahre baute er den Verkauf von Infosys' Diensten in den USA auf. "Ich habe die Anonymität genossen", erinnert er sich. Ins Rampenlicht rückte Nilekani im Jahr 2002. Damals zog sich Infosys' Übervater Murthy aus dem Tagesgeschäft zurück, und sein Kronprinz rückte als CEO nach. Mit der kantigen Wucht seines fülligen Körperbaus, seinem rasanten Redefluss und seiner Ungeduld verkörpert Murthys Nachfolger die Sturm-und-Drang-Attitüde, mit der nun immer mehr indische Unternehmer auf die Weltmärkte streben.
Aus dem Schatten seines Vorgängers trat Nilekani schnell hervor. Schon 2003 stand er auf Platz 35 im PriceWaterhouseCoopers Ranking der respektiertesten CEOs der Welt. 2005 rief A.T. Kearney Infosys zu Indiens am besten gemanagten Unternehmen aus. Im selben Jahr erhielt Nilekani in Wien den Schumpeter-Preis für Innovation in Wirtschaft und Politik. Dass Nilekani dank Offshoring zu einem der reichsten Männer seines Landes werden würde, war ihn nicht in die Wiege gelegt. Als Spross einer durchschnittlichen Mittelschicht-Familie wuchs er in einer Kleinstadt in Norden des Bundesstaats Karnataka auf. Es dauerte eine Weile, bis sich der junge Student an das Leben in im Moloch Bombay gewöhnte. Aber bald lernte der die Großstadt schätzen. "Ich war kein toller Student", blickt Nilekani zurück, "das Leben außerhalb der Universität war für mich viel interessanter." Seinen steilen Aufstieg verdankt er der Entscheidung, anders als viele Kommilitonen, nach dem Abschluss nicht in die USA auszuwandern. Doch auch er gibt zu:. "Ich habe mit der Idee gespielt."
Beim Studium lernte Nilekani seine Frau Rohini kennen. Sie hat ihren Beruf als Journalistin inzwischen aufgegeben und kümmert sich um die wohltätigen Stiftungen, in die ihr Gatte einen Teil seines Reichtums leitet. Dieser ist beträchtlich. Wie seine Firma ist Nilekani ein Globalisierungsgewinner. Alleine der Verkauf eines Aktienpakets im Mai 2005 machte ihn in um 70 Millionen Dollar reicher. Doch sein Ehrgeiz richtet sich zunehmend auf Sozialprojekte. Imagegründe seien dafür nicht der Grund, beteuert er. Wer von Wirtschaftsliberalisierung profitiert, hat für diesen Ex-Marxisten "eine enorme Verpflichtung, das meiste davon an die Gesellschaft zurückzugeben". Steuern zahlen sei nicht genug, meint der Unternehmer, der Millionen für die Ausbildung armer Kinder spendet, Bauern mit Kleinkrediten unter die Arme greift und seine ehemalige Universität mit Millionen unterstützt.
Beruflich ist der Manager am Ziel: "Ich möchte keinen anderen Job machen und auch nicht mehr Geld verdienen", sagt er. Statt dessen würde Nilekani sein Privat- und Familienleben gerne in eine bessere Balance bringen mit seiner Rolle als CEO. Oberste Priorität genießt für ihn, mehr Zeit mit Sohn Nihar und Tochter Janhavi zu verbringen. Seine persönlichen Interessen sind atypisch für Inder: Kino und Cricket - die zwei größten nationalen Leidenschaften - lassen ihn kalt. Statt dessen liebt Nilekani Musik und Bücher. Auf seinem Ipod hat er viel von den Beatles gespeichert, dazu The Who, Jethro Tull, Bob Dylan, Simon & Garfunkel sowie The Doors - die Hymnen seiner Jugend. Er liest gerne Sachbücher - scheut jedoch Management-Bibeln.
Oliver Müller ist Südasien-Korrespondent für das "Handelsblatt" in Bangalore.