Im Gegenteil: "Indien muss seine Emissionen steigern, um die Wirtschaft zu entwickeln und die Armut zu mindern", erklärt unverblümt der indische Wissenschaftler Rajendra K. Pachauri, der Vorsitzende des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC). Dabei gibt das in diesem Frühjahr veröffentlichte "Little Green Data Book" der Weltbank an, dass Indien im Jahr 2002 rund 57 Prozent mehr klimaschädliche Gase emittiert hat als noch zehn Jahre zuvor.
Indien entwickelt einen gewaltigen Hunger nach Energie. Die Bevölkerung - mehr als 1,1 Milliarden Menschen - wächst um knapp zwei Prozent pro Jahr. Die Wirtschaftsleistung nimmt derzeit jährlich um rund sieben Prozent zu. Dabei herrscht seit Jahrzehnten ein chronisches Defizit in der Energieversorgung, Stromausfälle sind fast so alltäglich wie Sonnenschein. Da die Kraftwerke den Spitzenbedarf nicht decken können, müssen oft ganze Stadtviertel oder ländliche Bezirke abgeschaltet werden, damit das Netz nicht zusammenbricht. Die Abnehmer sind an tägliche "powercuts" gewöhnt: Krankenhäuser, Banken und viele Geschäfte sorgen mit eigenen Generatoren vor.
Gestillt wird dieser Hunger nach Energie vorwiegend durch die Verbrennung von Kohle und Erdöl. Kohle, fast ausnahmslos aus heimischen Gruben, deckt 55 Prozent des gesamten Energieverbrauchs und erzeugt 70 Prozent des elektrischen Stroms. Erdgas und Erdöl werden für 40 Prozent des Energieverbrauchs eingesetzt. Da Indien nur über wenige Lagerstätten verfügt, müssen mehr als 70 Prozent des Öls importiert werden - eine schwere Belastung für die Außenhandelsbilanz. Die unter enormen Kosten entwickelte Atomwirtschaft steuert lediglich rund ein Prozent, erneuerbare Quellen etwa fünf Prozent zur Deckung des Energieverbrauchs bei. Um das angestrebte Wirtschaftswachstum von acht bis neun Prozent im Jahr zu erreichen, muss laut der Planungskommission der Regierung die Stromerzeugungskapazität von derzeit rund 100.000 Megawatt (MW) bis zum Jahr 2031 auf fast 800.000 MW gesteigert werden. Geplant ist derzeit eine Kapazitätssteigerung um 40.000 MW in den nächsten fünf Jahren - überwiegend mit Großprojekten.
Doch die rapide Industrialisierung und der Bau neuer Kraftwerke hat das Leben der Bevölkerung nur zum Teil verbessert - die meisten Betroffenen leiden unter der Umweltverschmutzung und Arbeitslosigkeit. Singrauli etwa rühmt sich, die Energiehauptstadt Indiens zu sein. Am Rande der Gangesebene, südlich der Stadt Varanasi, ragen reihenweise turmhohe Schornsteine in den Himmel. In der Erde tun sich riesige schwarze Gruben auf. Staub und Ruß verdunkeln die tropische Sonne. Die meisten Menschen hausen dichtgedrängt in schäbigen Kolonien am Rande gewaltiger Schuttgebirge. Vor zwei Generationen noch bestellten hier Kleinbauern ihre Parzellen, sammelten Ureinwohner Honig und Kräuter im Wald. In den späten 50er-Jahren wurde der Rihand-Fluss durch einen Großdamm aufgestaut. Später entdeckte man nahe des Stausees reichhaltige Kohlevorkommen, die man zur Erzeugung von elektrischer Energie bestimmte.
Heute stehen rund um den Stausee fünf große Kraftwerke, eine Aluminiumschmelze und eine Chemiefab-rik. Die Kraftwerke mit einer Gesamtleistung von 9.000 Megawatt werden über Förderbänder aus neun Kohlegruben mit Brennstoff versorgt und mit Wasser aus dem Stausee gekühlt. Sie verbrennen mehr als 30 Millionen Tonnen Steinkohle im Jahr. Dabei fallen täglich rund 20.000 Tonnen schwermetallhaltiger Asche an, die mit Wasser vermischt und in riesige Absatzbecken am Ufer des Rihand-Stausees gepumpt wird. Mitunter schlagen Rohre leck und der Monsunregen spült große Mengen des giftigen Schlamms in den natürlichen Wasserkreislauf. Deswegen ist das Grundwasser in Singrauli großflächig verseucht. Im Stausee, dem Trinkwasserreservoir für eine Million Menschen, hat man Spuren von Cadmium, Arsen, Nickel und anderen Giftstoffen nachgewiesen.
Durch die Industrialisierung von Singrauli verloren mehr als 100.000 Menschen ihr Land. Einige Tausend wurden mit Geld entschädigt und erhielten ein Grundstück zum Hausbau; die meisten waren gezwungen, in wilden Slumsiedlungen einen Neuanfang als Tagelöhner zu versuchen. Nur 5.000 Umsiedler fanden eine feste Anstellung im Kohlebergbau oder in einem der Kraftwerke. In den mit staatlicher Unterstützung errichteten Wohnquartieren fehlen Trinkwasserpumpen, Toiletten und Krankenstationen. Viele Häuser in Sichtweite der Kraftwerke sind nicht einmal an das Stromnetz angeschlossen.
Indiens Energiewirtschaft steckt tief in der Krise: Zwangsvertreibungen durch Großprojekte, Missmanagement in aufgeblähten Verwaltungsapparaten, schamloser Stromdiebstahl durch Slumbewohner und Indus-triebetriebe sowie tägliche Stromausfälle sind dafür Symptome. Viele Experten raten deswegen - fast gebetsmühlenartig - zur Privatisierung der öffentlichen Stromwirtschaft. Die Weltbank stellt dafür Kredite bereit. Doch nach der Energiekrise in Kalifornien Anfang 2001 und dem Bankrott des ersten privaten Kraftwerksprojektes in Dhabol/Maharashtra hat dieses Mantra seine Kraft verloren.
Orissa war der erste Unionsstaat, der vor knapp zehn Jahren die Stromwirtschaft privatisierte. Die staatliche Strombehörde "Orissa State Electricity
Board" wurde aufgelöst, Privatfirmen mit der Erzeugung und Verteilung des Stroms beauftragt. Eine möglichst unabhängige Regulierungskommission soll den Markt ordnen und die Interessen der Verbraucher schützen. Im Jahr 2002 zog auch die Hauptstadt Delhi nach und leitete die Privatisierung ein. "Unglücklicherweise sind die Erfahrungen mit der Privatisierung der Stromverteilung in Orissa und Delhi nicht sehr vertrauenerweckend", kommentiert die Entwicklung der ehemalige Staatssekretär Madhav Godbole. Marode Leitungen und schlichter Diebstahl führten dazu, dass nach wie vor bis zu 50 Prozent des erzeugten Stroms im Verteilungsnetz verloren gehen. Dennoch setzt die Regierung den Privatisierungsprozess fort. Gegenwärtig wirbt sie für Investoren für fünf "Ultra-Mega-Stromfabriken" mit einer Leistung von je 4.000 Megawatt, mit deren Bau noch in diesem Jahr in den Unionsstaaten Madhya Pradesh, Chhattisgara und Maharashtra begonnen werden soll.
Unterdessen hat sich vielerorts der Protest gegen die geplanten Großprojekte der Regierung formiert. Seit mehr als 15 Jahren wehren sich etwa Anwohner am Narmada-Fluss mit Protesten gegen ihre Vertreibung wegen des Baus großer Staudämme. Biedere Bauern wurden zu Rebellen, abgelegene Dörfer schlitterten ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit. Es ist ein Kampf um Naturressourcen, bei dem es aber auch um soziale Gerechtigkeit und um die Bewahrung eines als heilig verehrten Flusses geht. "Großstaudämme sind ein Symbol für die Mechanismen, die Reiche und Arme, Städte und Dörfer voneinander trennen", urteilt die Schriftstellerin Arundhati Roy, die den Widerstand unterstützt.
Der Kampf der Bauern und Ureinwohner am Narmada-Fluss ist inzwischen ein nationales Symbol. Wo immer die Regierung einen neuen Riesendamm zur Stromgewinnnung und Bereitstellung von Wasser für die Bewässerung plant, regt sich bald öffentlicher Widerstand. Mehrere Großprojekte mussten wieder in den Schubladen der Planungsbehörde verschwinden, denn nach zahlreichen Unfällen wie in Bhopal und Skandalen ist das Umweltbewusstsein in der Bevölkerung gewachsen: So verhinderten Anwohner die Auflassung von Uranminen in Meghalaya und Andhra Pradesh. Und auch in Singrauli fanden jahrelang Proteste gegen die Umweltverschmutzung und ungenügende Hilfen für die vertriebenen Landbewohner statt.
Dabei ist Indien nicht nur auf die konventionelle Energiegewinnung aus Kohle, Öl und Atomkraft angewiesen. Schon in den 70er-Jahren schuf die Regierung in Delhi ein Ministerium für "nichtkonventionelle Energien". Heute nimmt Indien unter den Ländern des Südens eine führende Stellung bei der Nutzung regenerativer Energiequellen ein. Nach China besitzt Indien die weltweit zweitgrößte Anzahl an Biogasanlagen. Im vergangenen Jahr stieg das Land mit einer installierten Kapazität von 3.600 MW zum weltweit viertgrößten Erzeuger von Windenergie auf. Millionen Haushalte erzeugen ihr Heißwasser mit Sonnenergie auf. Die massenhafte Verbreitung von Solarmodulen für die Stromproduktion wird allerdings noch durch deren hohe Kosten behindert.
Indien versucht derzeit, die Produktion von Biodiesel voranzutreiben und propagiert das Anpflanzen ölhaltiger Jatropha-Bäume auf landwirtschaftlich nicht nutzbaren Flächen. "Sich entwickelnde Länder wie Indien sollten sich auf lokal verfügbare Ressourcen konzentrieren und beispielsweise regenerative Energien fördern", empfiehlt auch der Klimaforscher Rajendra K. Pachauri.
Zunehmend greift eine weitere Idee um sich, die das eine oder andere umweltschädliche - und wohl kaum zu vermeidende - Großprojekt überflüssig machen könnte: das Energiesparen. "In Indien wird Energie sehr ineffizient genutzt", konstatiert Girish Sant, ein junger Ingenieur, der sich in der Bürgerinitiative Prayas-Pune mit der Energiewirtschaft aus Sicht der Verbraucher beschäftigt. "Die Industrie arbeitet mit veralteten Maschinen, Pumpen und Motoren. Die in der Landwirtschaft eingesetzten Bewässerungspumpen haben einen lächerlich geringen Wirkungsgrad. Selbst Privathaushalte verschwenden Strom mit konventionellen Glühbirnen und technisch überholten Hausgeräten."
In den 90er-Jahren ermittelte die Weltbank ein Energiesparpotenzial von 30 Prozent für die indische Wirtschaft. Das Energieministerium in Delhi richtete eine neue Abteilung ein, die "Energy Conservation Cell". "Es kommt weitaus billiger, ein Megawatt Strom einzusparen, als ein Megawatt zu produzieren", verkündet deren Direktor Shashi Shekhar. "Wir haben ein Programm für die Modernisierung bestehender Kraftwerke gestartet. Das neue Energiespargesetz legt Standards für den Energieverbrauch von Massenkonsumgütern an, die sich später in Labels für den Verbraucher niederschlagen sollen."