Er möchte noch mal 20 sein. Subodh Sapra ist 68 Jahre alt und leitet die Polyestersparte des umsatzstärksten indischen Industriekonzerns Reliance. Die Unternehmensgruppe, die im vergangenen Jahr unter den beiden Söhnen des Gründers Mukesh Ambani geteilt worden war, erwirtschaftet zusammen genommen rund drei Prozent des indischen Bruttoinlandsproduktes und expandiert weltweit. In Deutschland kaufte Reliance 2004 Trevira, die ruinöse Polyesterfasertochter des früheren Hoechst-Konzerns. Seither ist Sapra Chef von 13.000 indischen und 2.000 deutschen Mitarbeitern. Und doch glaubt er, dass noch mehr ginge, wenn er noch einmal jung sein dürfte: "Es wäre aufregend, im jetzigen Indien aufzuwachsen. Es ist faszinierend zu sehen, was heute alles möglich ist."
Indien steht plötzlich im Rampenlicht. Das Land ist aus dem Schatten Chinas herausgetreten als das neue Wachstumswunder, an dem sich die Welt berauscht - und die Inder schenken gerne nach. "Indien ist die am schnellsten wachsende Demokratie der Welt", schallt es dem Besucher entgegen - in Abgrenzung zum autoritär regierten Konkurrenten China. Als "Hindu-Wachstum" waren in der Zeit vor dem Boom die bescheidenen Zuwächse des Bruttoinlandsproduktes verspottet worden, die das Bevölkerungswachstum des Landes kaum überstiegen.
Indische Regierungen hatten in mehreren Anläufen versucht, das zu ändern, mit halbherzigen Wirtschaftsreformen, die von mächtigen Interessengruppen oft im Keim erstickt wurden. Im neuen Jahrtausend scheint es nun zu klappen: Die Wachstumsrate pendelt zwischen sieben und acht Prozent, Anleger transferieren ihr Geld nach Indien, Unternehmen verlagern ihre Softwareabteilungen dorthin, und die Investmentbank Goldman Sachs tippt, dass das Land 2020 die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt sein wird, nach den USA und China.
Das ist Zukunftsmusik. Doch wird die Melodie inzwischen so oft gespielt, dass jeder Inder sie mitpfeifen kann. Und nicht nur jeder Inder: Afghanen und Nepalesen wachsen mit Bollywood-Filmen auf und erträumen sich ihre berufliche Zukunft in indischen Softwarekonzernen. Indiens kultureller Sog reicht heute weit über die Landesgrenzen hinaus bis auf die arabische Halbinsel und nach Südostasien.
Der Optimismus ist so groß wie nie zuvor in diesem Land, das ein Subkontinent ist, und dessen 1,1 Milliarden Einwohner im Durchschnitt 25 Jahre alt sind - und damit acht Jahre jünger als die 1,3 Milliarden Chinesen, die wegen ihrer Ein-Kind-Politik Gefahr laufen, alt zu werden, bevor sie reich geworden sind. Indiens Erfolg ist ein Selbstläufer geworden. Er hat die kritische Masse erreicht, um nicht beim ersten Schock zu kollabieren. "Die Frage ist nicht mehr, ob Indien fliegen kann, sondern nur noch, wie hoch", diagnostizierte daraufhin das britische Magazin "The Economist".
Die politische und wirtschaftliche Elite Indiens ist sehr geschickt darin, aus den Erwartungen, die die Welt mit ihrem Land verknüpft, einen realen Machtanspruch abzuleiten. Das Selbstbewusstsein der Staatslenker und Wirtschaftsbosse wird dazu beitragen, dass Indien im Jahr 2020 im Konzert der Großmächte mitspielen wird, selbst wenn die Volkswirtschaft nicht im gleichen Tempo abheben sollte wie prophezeit. Indien wird in Fragen der globalen Wirtschaftsordnung mitentscheiden, Indien ist ein Wortführer in der Welthandelsorganisation WTO, Indien bewarb sich im vergangenen Jahr gemeinsam mit Deutschland, Japan und Brasilien um einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen - unter anderem mit dem Argument, dass es einer der größten Truppensteller internationaler Friedensmissionen ist.
Die Mitsprache des Landes in globalen Fragen ist schon heute sehr gefragt. Dabei profitieren die Lenker der neuen "India Inc." ausgerechnet von dem Vergleich, den sie in Diskussionsrunden so entnervt von sich weisen: den mit dem wirtschaftlich erfolgreicheren China.
Von Indien erwarten westliche Politstrategen und Investoren, dass es die Mängel der anderen asiatischen Großmacht ausgleicht - mit mehr Demokratie, mehr Rechtsschutz und besseren Englischkenntnissen.
Je mehr die US-Regierung China als strategischen Rivalen fürchtet, desto mehr wünscht sie sich Indien als Partner. Weshalb sie dem Land, das sich außerhalb aller internationalen Abkommen zur Atommacht aufgeschwungen hat, nun sogar Zugang zu Importen ziviler Nukleartechnologie gewähren will - was in internationalen Abrüstungszirkeln und nicht zuletzt im US-Kongress höchst umstritten ist.
Der Ritterschlag aus Washington ist wichtig für Indien, das sich als verantwortungsvoller Global Player präsentieren will - und sein Image abkoppeln möchte von der Militärdiktatur Pakistan, der anderen unlegitimierten Atommacht auf dem Subkontinent. Die Entschärfung des Konfliktes mit dem muslimischen Nachbarland ist Ehrensache für eine indische Staatsführung, die sich auf das ökonomische Wachstum konzentrieren will und die Rolle einer Ordnungsmacht in der Region anstrebt.
Anlässe zum Schlichten gäbe es genug: Ob in Nepal oder in Sri Lanka - die Bürgerkriege in der Nachbarschaft strahlen zum Teil bis in die angrenzenden indischen Bundesstaaten aus. Doch ist es unwahrscheinlich, dass die Konflikte an der Peripherie des Subkontinentes auf das indische Kernland übergreifen. Separatistische Anschläge und religiöse Unruhen wird es in Indien weiterhin vereinzelt geben, doch dürften sie wie in der Vergangenheit lokal begrenzt bleiben. Der Föderalismus und die zersplitterten Identitäten des multikulturellen und vielsprachigen Staates verhindern einen Flächenbrand.
Viel explosiver kann für Indien die Frage der sozioökonomischen Gerechtigkeit werden. So wird zwar häufig gelobt, das indische Wachstum sei hausgemacht von Menschen, deren Einkommen steigen und die deshalb mehr konsumieren. Doch bleibt der Boom bisher einer relativ gut gebildeten städtischen Elite vorbehalten. An 600 Millionen Landbewohnern geht er weitgehend vorbei, rund 260 Millionen Menschen leben unterhalb der von der Weltbank definierten Armutsgrenze von einem US-Dollar am Tag. Was Indien dringend braucht, sind Arbeitsplätze außerhalb der Softwarelabore, Bildung außerhalb der Spitzenuniversitäten und die nötige Infrastruktur, um eine Brücke zwischen den zwei auseinanderstrebenden Welten zu schlagen.
Der Anfang ist geschafft: Die hohe Binnennachfrage lockt produzierende Industrie nach Indien, manche Hersteller beliefern von Indien aus andere Länder der Region. Der Weltmarkt hingegen lässt sich aus Indien nicht bedienen: In der arbeitsintensiven Massenproduktion von Konsumgütern hat China einen Vorsprung, der schwer einzuholen ist.
Ob Indien in neue Wachstumsregionen vordringen kann, wird gerade in den nächsten Jahren sehr stark von den richtigen politischen Weichenstellungen abhängen: vom richtigen Einsatz staatlicher Investitionen und Anreize, von der richtig dosierten Marktöffnung und von Änderungen am restriktiven Arbeitsrecht, das viele Investoren als abschreckend empfinden.
Auch in Indien gibt es viele, die den Jubel bremsen: "Wir haben eine Menge Arbeit vor uns. Wir sollten uns nicht von der internationalen Aufmerksamkeit in die Irre führen lassen. Nur weil Henry Kissinger, Newsweek und der US-Präsident es sagen, ist Indien noch keine Weltmacht", sagt Arun Shourie, der als Minister in der Vorgängerregierung für die Privatisierung von Staatsbetrieben zuständig war.
Außerdem wird die weltpolitische und weltkonjunkturelle Entwicklung einen großen Einfluss darauf haben, ob Indien in 15 Jahren als Erfolgsgeschichte gesehen werden wird - und nicht zuletzt, ob es China gelingt, seine heutige Position zu halten oder weiter auszubauen. Indien hat derzeit ebenso gute Gründe, China Erfolg zu wünschen wie es als potenziellen Rivalen zu fürchten: Einerseits konkurrieren die Volkswirtschaften der beiden Milliardenvölker um die wenigen noch nicht verteilten Rohstoffquellen dieser Erde. Andererseits brauchen sie einander als Partner: Der Handel zwischen beiden Ländern wächst mit einer solchen Geschwindigkeit, dass westliche Partner schon um ihren Einfluss fürchten.
Wie hoch Indien fliegen kann, hängt schließlich nicht nur von objektiv messbaren Entwicklungen ab, sondern auch von dem Kredit, den die Welt bereit ist, ihm zu geben. So ist die Regierung beim Ausbau der Infrastruktur wegen ihrer angespannten Haushaltslage auf private Investoren angewiesen. Der Staat kann zwar helfen, indem er die Rahmenbedingungen verbessert. Ansonsten bleibt ihm nur zu hoffen, dass die entfesselte Wirtschaft auf Kurs bleibt. Dass dazu nicht nur gute Planung, sondern auch viel Glück gehört, weiß der für Wirtschaftsplanung zuständige Minister Montek Singh Ahluwalia: "Sie müssen auf Indien eine Wette abschließen", sagt er. Der Reliance-Manager Sapra würde das tun.
Sabine Muscat ist Politikredakteurin bei der "Financial Times Deutschland".