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Informationen über dieses Dokument: Seitentitel: Treffen der Generationen – wo steht die Republik?
Gültig ab: 31.05.2006 10:26
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Treffen der Generationen – wo steht die Republik?

Bild: Anna Lührmann (Bündnis 90/Die Grünen) und Otto Schily (SPD)
Anna Lührmann (Bündnis 90/Die Grünen) und Otto Schily (SPD).

Bild: Anna Lührmann (Bündnis 90/Die Grünen).
Anna Lührmann (Bündnis 90/Die Grünen).

Bild: Otto Schily (SPD)
Otto Schily (SPD).

Streitgespräch: Gastgeber Deutschland

Die Welt ist zu Gast bei uns in Deutschland. Hunderte von Millionen Menschen blicken während der Fußballweltmeisterschaft auf unser Land. Für BLICKPUNKT BUNDESTAG Anlass, mit dem ältesten Abgeordneten des Bundestages, dem langjährigen Bundesinnenminister Otto Schily (Jahrgang 1932, SPD) und der jüngsten Parlamentarierin Anna Lührmann (Jahrgang 1983, Bündnis 90/Die Grünen) über den Standort Deutschland nachzudenken: Wie präsentiert sich unser Land 16 Jahre nach der Einheit und 15 Jahre nach dem Beschluss, Berlin zum Parlaments- und Regierungssitz zu machen? Ist aus der Bonner eine „Berliner Republik“ geworden? Was hat sich verändert, welche Erwartungen wurden erfüllt, welche Besorgnisse widerlegt? Und: Wie offen begegnen wir unseren Gästen?

Blickpunkt Bundestag: Wie möchte ein Mann wie Sie, Herr Schily, der Nazi-Zeit, das geteilte und nun das vereinte Deutschland erlebt und mitgeprägt hat, Deutschland wahr genommen haben?

Otto Schily: Als ein weltoffenes modernes Land, das sich nicht abschottet und weiß, dass wir heute in einer globalisierten Welt leben. Als ein Land, das auf Dialog und Zusammenarbeit setzt und das weiß, dass der Frieden auf der Welt wesentlich davon abhängt, dass man sich nicht nur für das eigene Land interessiert sondern auch für die Menschen außerhalb unserer Grenzen. Wenn das WM-Motto heißt „Die Welt zu Gast bei Freunden“, wollen und müssen wir uns bemühen, diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Ich glaube, dass uns dies in den letzten Jahren schon ganz gut gelungen ist. Mit dem neuen Staatsbürgerschafts- und Zuwanderungsrecht haben wir für wichtige Veränderungen in der Gesellschaft gesorgt.

Blickpunkt: Ist das auch Ihre Sicht, Frau Lührmann? Sie waren beim Fall der Mauer sechs Jahre alt, haben also nur dieses neue Deutschland erlebt. Was macht für Sie Deutschland aus?

Anna Lührmann: Dass wir wirklich ein modernes Land sind, auch was den Reifegrad der Demokratie anbetrifft. Das wird sichtbar präsentiert durch das Reichstagsgebäude mit seiner gläsernen Kuppel. Ich habe inzwischen viele Parlamente in anderen Ländern gesehen: Dort ist viel einschüchternde Architektur zu sehen, teilweise auch Muffigkeit, unser Parlamentsgebäude bietet dagegen viel Transparenz. Insofern steht das Gebäude zugleich für Bürgernähe und für Geschichtsbewusstsein. Es repräsentiert unsere Demokratie, in der gerade auch junge Menschen sich einbringen können. Vielleicht sind wir hier sogar ein bisschen Vorbild.

Blickpunkt: Ist das heutige, das vereinte Deutschland eine Fortschreibung der Bonner Bundesrepublik oder ist etwas anderes entstanden – eine Berliner Republik?

Schily: Mit solchen Etiketten bin ich vorsichtig. Bonn hat sich ja durch seine Bescheidenheit ausgezeichnet. Das war sicherlich auch gut so, denn Überheblichkeit ist uns noch nie gut bekommen. Die Befürchtung war ja, dass mit der Einheit und dem Umzug nach Berlin wieder ein pompöser Stil einziehen könnte. Aber das ist nicht eingetreten. Frau Lührmann hat Recht: Gerade das Reichstagsgebäude symbolisiert Offenheit und Transparenz. Von Größenwahn kann hier in Berlin wirklich keine Rede sein.

Blickpunkt: Woher kommen die Veränderungen? An der Verfassungsordnung und am politischen System hat sich ja nichts Wesentliches verändert?

Lührmann: Was für mich zum Kernbestand der Berliner Republik gehört – die alte Bonner kenne ich ja gar nicht –, ist die Nähe zu den neuen Mitgliedern der EU und insgesamt die Einbindung in die Europäische Union. Für meine Generation ist sehr wichtig, dass wir nicht nur die deutsche Brille auf haben, sondern uns als Teil eines geeinten Europa begreifen. Das beugt jedem Großmachtgetue vor. Ich glaube, wir jungen Deutschen verstehen uns, vielleicht mehr als etwa unsere Freunde in Frankreich und England, wirklich als Europäer.

Schily: Es ist ein Glücksfall der Geschichte, dass mit der Wiedervereinigung kein Rückfall in Nationalismus verbunden war. Das ist sehr wichtig. Auch wir Ältere, Frau Lührmann, verstehen uns als deutsche Europäer oder als europäische Deutsche. Dieser Gedanke der Europa-Zugehörigkeit ist für deutsche Politik sehr wichtig und es ist gut, dass es darüber einen breiten Konsens gibt.

Blickpunkt: Sie selbst, Herr Schily, hatten in der berühmten Hauptstadtdebatte vom 20. Juni 1991 davor gewarnt, dass in dem neuen, größeren Deutschland mit über 80 Millionen Einwohnern wieder nationalistische Tendenzen wach werden könnten. Warum sind die Befürchtungen erfreulicherweise nicht wahr geworden?

Schily: Was ich äußerte, war keine Befürchtung, sondern eine Warnung, weil es unterschwellige Tendenzen in eine solche Richtung gab. Dass sie keine Nahrung fanden, lag, so glaube ich, mit daran, dass die Politik wirklich gesamteuropäisch gedacht und gehandelt hat. Zum Westeuropäischen ist das Osteuropäische dazu gekommen. Europa ist durch die Erweiterung bereichert worden. Polen ist ein altes europäisches Kulturland, ebenso Ungarn, Tschechien, die Slowakei oder die baltischen Länder. Durch sie haben wir nicht nur ökonomische, sondern auch kulturelle Vorteile erhalten. Unsere Augen sind einfach offener geworden. Gerade in Berlin ist das gut spürbar.

Lührmann: Für die Mehrheit der Gesellschaft mag das richtig sein. Es gibt aber leider andere bei uns, die das anders sehen. Für mich ist die zunehmende Tendenz zum Rechtsextremismus und zu Gewalttaten schon ein großes Problem, gerade jetzt auch zur Fußball-WM. Und zwar nicht nur in Berlin oder im Osten sondern auch in Hessen, wo ich herkomme und wo man denkt, die Welt sei noch in Ordnung. Dass Menschen mit anderer Hautfarbe bei uns verprügelt werden, kann und will ich nicht akzeptieren. Ein solches Deutschland will ich nicht haben, sondern ein weltoffenes und tolerantes.

Blickpunkt: Gehören zum heutigen Deutschland „no-go-areas“, in die andersfarbige Menschen besser nicht gehen sollten, um nicht angegriffen zu werden, wie Ex-Regierungssprecher Heye klagt?

Lührmann: Wir müssen schon die negativen Seiten ansprechen und dürfen nichts vertuschen. Das Traurige ist ja, dass man mit dem Strafrecht alleine nicht weiter kommt. Wir müssen schon im Kindergarten und in den Schulen ansetzen, dass junge Menschen nicht zu rechtsradikalen Schlägern werden. Das erscheint mir ganz wichtig. Menschen anderer Hautfarbe dürfen bei uns keine Angst haben.

Blickpunkt: Der Umgang mit Menschen anderer Hautfarbe oder Religion ist wirklich zum Testfall unserer Demokratie geworden. Welchen Anteil trägt dabei die Zuwanderungspolitik?

Schily: Wenn Sie das Jahr 1998 vergleichen mit dem Jahr 2006, kann man deutliche Fortschritte erkennen, wie debattiert wird. Ausländerpolitik ist kein Feld mehr, in dem man Ressentiments schürt oder nach politischen Geländevorteilen schaut. Das beschränkt sich jetzt auf die rechtsextremistischen Parteien, die es leider immer noch gibt und die besser verboten wären. Durch das neue Staatsangehörigkeits- und Zuwanderungsrecht und eine vernünftige Bleiberegelung ist viel Ruhe eingekehrt. Deutschland stellt sich heute sehr viel anders da als vor acht Jahren.

Lührmann: Die Ruhe sehe ich nicht. In Teilen der Gesellschaft ist durchaus die Sehnsucht nach einer restriktiven Ausländerpolitik vorhanden, ich denke nur an den Fragebogenvorstoß einiger Bundesländer. Dabei sind die Leute, die die formalen Voraussetzungen erfüllen, um deutsche Staatsbürger zu werden, gar nicht unser Integrationsproblem. Deshalb halte ich es für hochgradig problematisch, darüber zu diskutieren, wie man Leute davon abhalten kann, unsere Staatsbürgerschaft zu bekommen und gleichzeitig die Angebote für Integrationskurse zusammenzustreichen.

Schily: Wir wollen hier sicher keine neue Grundsatzdiskussion über Staatsangehörigkeitsrecht führen. Aber natürlich gibt es ein berechtigtes Interesse daran, die deutsche Staatsangehörigkeit nicht beliebig zu vergeben, etwa an Leute, die nun wirklich mit dem Staat nichts zu tun haben wollen.

Blickpunkt:Was ist eigentlich das Verbindende, was uns Deutsche zusammenhält? Haben wir oder brauchen wir so etwas wie eine Nationalkultur, um nicht von Leitkultur zu sprechen? Schily: Nun, wir haben kulturelle Traditionen, eine wunderbare Sprache, es gibt Landschaften, es gibt vieles, was uns verbindet. Dazu gehört auch die Kultur der Zuwanderer, denken Sie ganz früh an die Hugenotten oder später an die Polen im Ruhrgebiet, die nicht nur unseren Fußball gewaltig auf die Beine geholfen haben. Die Italiener, die Türken, die Griechen, sie alle haben unsere Kultur bereichert.

Lührmann: Da stimme ich zu. Gerade hier in Berlin und unter Jugendlichen ist es sehr spannend mitzuerleben, was sich wie und wo alles zusammenfindet und zum Schluss zu einer neuen, gemeinsamen Identität findet. Das ist ein sehr produktiver Prozess.

Blickpunkt: Zurück zur Fußball-WM. Herr Schily, bei der letzten WM 2002 hatte die SPD ironisch in ihr Parteiprogramm geschrieben: „Deutschland wird Weltmeister!“ Daraus wurde nichts. Was erwarten Sie diesmal?

Schily: Im Endspiel werden Brasilien und Deutschland stehen. Dann werden wir sehen, wer der Beste ist.

Blickpunkt: Und Ihre Prognose Frau Lührmann? Interessieren Sie sich überhaupt für Fußball?

Lührmann: Ihr Vorurteil stimmt leider: Ich interessiere mich nicht sonderlich für Fußball. Deshalb schließe ich mich ausnahmsweise Otto Schily an.

Das Gespräch führte Sönke Petersen
Fotos: Photothek
Erschienen am 6. Juni 2006

Weitere Informationen:

Anna Lührmann (Bündnis 90/Die Grünen),
Jahrgang 1983, ist die jüngste Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Die Studentin aus Hessen ist ordentliches Mitglied des Haushaltsausschusses und des Unterausschusses zu Fragen der Europäischen Union.
E-Mail: anna.luehrmann@bundestag.de
Webseite: www.anna-luehrmann.de

Otto Schily (SPD),
Jahrgang 1932, ist der älteste Abgeordnete des Deutschen Bundestages und Alterspräsident des Parlaments in der 16. Wahlperiode. Der Rechtsanwalt und Bundesminister des Innern a. D. ist ordentliches Mitglied im Auswärtigen Ausschuss.
E-Mail: otto.schily@bundestag.de
Webseite: www.otto-schily.de

Reden Sie mit beim Thema „Gastgeber Deutschland“:

Redaktion: blickpunkt@media-consulta.com

Die TV-Aufzeichnung dieses Streitgesprächs kann im Web-TV des Bundestages angesehen werden: www.bundestag.de/live/tv


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