Wer nach einem Bild sucht, um all die Unzulänglichkeiten europäischer Außenpolitik zu beschreiben, der kam beim Treffen des Nahost-Quartetts Anfang Februar in Washington auf seine Kosten. Nicht vier Politiker traten da vor die Presse, wie es der Name der Veranstaltung nahelegen würde, sondern sechs. Neben dem UNGeneralsekretär und den Außenministern der USA und Russlands waren zwei Männer und eine Frau zu sehen. Alle drei vertreten die EU in dem Quartett — der EU-Außenbeauftragte Javier Solana, die Kommissarin für Außenbeziehungen und europäische Nachbarschaftspolitik, Benita Ferrero-Waldner, und, als Vertreter der derzeitigen EU-Ratspräsidentschaft, Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD).
Wenn ich Europa anrufen will, welche Nummer
wähle ich dann?”, hatte der ehemalige amerikanische
Außenminister Henry Kissinger vor langer Zeit gefragt.
Jahrzehnte später scheint dieser Ausspruch wenig von seiner
Aktualität verloren zu haben.
Die Europäische Union hat über Jahrzehnte viel
geschaffen: den Binnenmarkt, in dem Waren, Dienstleistungen,
Kapital und Arbeitnehmer ohne Grenzen verkehren, eine gemeinsame
Währung, die den Geldtausch im Euroraum überflüssig
macht. Geteilter Wohlstand sorgt dafür, dass Kriege zwischen
EU-Mitgliedern heute so unwahrscheinlich sind wie nie zuvor. Und
dennoch: Zu einer gemeinsamen Außenpolitik konnten sich die
Europäer bislang nur in Ansätzen aufraffen. Mag
Brüssel ruhig über Milchquoten entscheiden — gerade
größeren Mitgliedsländern gilt die
Außenpolitik weiter als die letzte Bastion eines
souveränen Staates.
Im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft gedenken am 25.
März 2007 die Staats- und Regierungschefs der
EU-Mitgliedsstaaten in Berlin feierlich der Unterzeichnung der
Römischen Verträge vor 50 Jahren und damit der
Geburtsstunde der EU. Versuche, in der Außenpolitik
geschlossen aufzutreten, sind weit jüngeren Datums. So
ernannte die Union erst 1999 einen Hohen Vertreter für die
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik — seitdem
bekleidet der Spanier Javier Solana dieses Amt.
Dabei zeigt ein Blick in die Europäische Sicherheitsstrategie
von 2003, dem Grundlagendokument europäischer Außen- und
Sicherheitspolitik, dass Europa die meisten internationalen
Probleme nur vereint angehen kann. Keines der angesprochenen
Risiken, von den scheiternden Staaten in Entwicklungsregionen bis
zum globalen Terrorismus, von Regionalkonflikten in der
europäischen Nachbarschaft bis zur langfristigen Sicherung des
europäischen Energiebedarfs, können die Mitglieder allein
bewältigen.
Drängende Aufgaben
Zudem sind europäische Interessen
längst nicht mehr auf die unmittelbare Nachbarschaft
beschränkt. Nicht nur der Balkan (hier steht während der
deutschen EU-Ratspräsidentschaft die Lösung der
Kosovo-Frage an) oder die Ukraine mit ihrer verblassten orangenen
Revolution, auch der Nahe Osten, Iran, Irak, Afghanistan gehen die
EU direkt an. „Eine Eskalation des Konflikts mit Teheran, ein
Zerfall des Irak, ein religiös aufgeladener Kulturkrieg, alles
nicht undenkbar, werden unmittelbar zu europäischen Problemen,
ob es sich heraushalten möchte oder nicht”, schreibt
Gunter Hoffmann im Fachblatt Internationale Politik. Auch um
bessere Beziehungen zu den Ländern Zentralasiens —
Stichworte Menschenrechte und Energiesicherheit — will die EU
sich kümmern. Schließlich steht in diesem Jahr die
Erneuerung des bisherigen Partnerschafts- und Kooperationsabkommens
der EU mit Russland an.
Europa ist ein globaler Akteur. Mit rund 480 Millionen Einwohnern
umfasst die Union mehr Menschen als die Vereinigten Staaten und
Russland zusammen. Europa erwirtschaftet ein Viertel des weltweiten
Wohlstandes, doch darauf angelegt, Weltmacht zu werden und mit
einer Stimme im Konzert der Mächte aufzutreten, war der
Staatenverbund nie.
Nur langsam setzte sich die Idee durch, dass Europa gemeinsam
stärker ist. Einen entscheidenden Schub hatte die Entwicklung
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) durch
die Nachfolgekriege auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien
bekommen. 1992 legten die Mitglieder im Maastricht-Vertrag die
Grundsätze für die GASP fest und sie wurde in der
sogenannten „Zweiten Säule” in das rechtliche
Rahmenwerk der Union eingeflochten. Hier hat die EU, vereinfacht
gesagt, weit weniger Befugnisse als etwa bei der Schaffung des
Binnenmarktes oder in der Handelspolitik, die zur „Ersten
Säule” gehören. Während sich das
Europäische Parlament dort zum Mitgesetzgeber neben dem Rat
entwickelt hat, ist sein Einfluss auf die EU-Außenpolitik
weiter begrenzt.
Den ersten Praxistest bestand das neue Regelwerk nicht.
Vermittlungsversuche der EU während des Krieges in Jugoslawien
blieben erfolglos, militärisch eingreifen konnten die
Mitgliedsstaaten nur im Rahmen von UN und NATO-Missionen. Der
Europäische Rat von Köln beschloss dann 1999 den Aufbau
einer operativen und eigenständigen Europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik als integralen Bestandteil
der GASP. Im Zweifel sollte die EU auch ohne die NATO
europäische Interessen vertreten können.
Die ersten ESVP-Einsätze brachten
europäische Soldaten dorthin, wo europäische Politik
zuvor gescheitert war — auf den Balkan. Eine Polizeimission
löste im Januar 2003 UN-Beamte in Bosnien-Herzegowina ab, drei
Monate später übernahm eine EU-Militärtruppe die
Aufgaben der NATO in der ehemaligen jugoslawischen Republik
Mazedonien. Vergangenes Jahr sicherten EU-Truppen die ersten freien
Wahlen in der Demokratischen Republik Kongo seit über 40
Jahren. Jetzt steht eine Eingreiftruppe, die rund 1.300 Mann starke
sogenannte „EU-Battlegroup”, bereit, die weltweit
schnell in Krisenregionen verlegt werden kann.
Sperriges Prozedere
Wie rasch diese Soldaten reagieren
können, hängt freilich vom Willen der 27 Mitglieder ab.
Größter Hemmschuh von ESVP und GASP ist das Prinzip der
Einstimmigkeit. Das Vokabular, das die Entscheidungsfindung
beschreibt, ist fast genauso sperrig wie das Prozedere selbst. Im
Gegensatz etwa zum Binnenmarkt oder der Handelspolitik ist im
Rahmen der GASP nicht die Kommission, also die
integrationsfreundliche Brüssler Exekutive, das entscheidende
Organ, sondern der Europäische Rat, also das Gremium, in dem
sich die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten
regelmäßig treffen. über gemeinsame Strategien
entscheidet er einstimmig. Umgesetzt werden diese Vereinbarungen
vom Rat der EU in der Zusammensetzung der EU-Außenminister in
gemeinsamen Standpunkten und Aktionen. Letztere beinhalten zum
Beispiel Details über das Verhängen von Sanktionen oder
den Einsatz von Wahlbeobachtern.
Oft aber gelingt es den Europäern nicht, zu einer gemeinsamen
Position zu kommen. Die tiefgreifenden Differenzen der
EU-Mitglieder im Frühjahr 2003 in der Frage, ob der
UN-Sicherheitsrat einen Krieg gegen Irak genehmigen sollte, sind
das bekannteste Beispiel. Doch auch bei weniger gravierenden Fragen
tut sich die Union schwer, die Interessen von mittlerweile 27
Staaten unter einen Hut zu bringen. Ulrike Guérot,
Europaexpertin beim German Marshall Fund, einem Think Tank in
Berlin, sieht weiter Handlungsbedarf: „Die beiden
fundamentalsten Projekte für die europäische Zukunft sind
einerseits die Energiepolitik und andererseits die europäische
Verteidigungspolitik.”
Zumindest einen Teil dieser Probleme geht der Europäische
Verfassungsvertrag an. So soll es in Zukunft einen
europäischen Außenminister geben. Dieser wird vom
Europäischen Rat mit Zustimmung des Präsidenten der
Europäischen Kommission mit qualifizierter Mehrheit ernannt.
Er ist sowohl Vizepräsident der Kommission als auch
Beauftragter des Ministerrates. Durch diese „zwei
Hüte” soll er die Stimmigkeit der GASP garantieren. Er
vertritt den Standpunkt der EU in internationalen Organisationen.
Kaum bekannt ist, dass der Vertrag erstmals auch eine
Beistandsverpflichtung ähnlich dem Artikel 5 des NATOVertrages
enthält. Demnach sind die Staaten verpflichtet, im Falle eines
Angriffs den angegriffenen Staat zu unterstützen.
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft hat es sich zur Aufgabe
gemacht, den Verfassungsvertrag und damit diese Bestimmungen
wiederzubeleben. Daher blicken die EU-Mitglieder mit Spannung auf
das erste Halbjahr 2007. „Deutschland ist ein großer
EU-Staat, der aufgrund seiner materiellen und personellen
Ressourcen besser als andere gerüstet ist, die
vielfältigen Management-, Leitungs-, Koordinierungs- und
Repräsentationsaufgaben einer Präsidentschaft zu
erfüllen”, schreibt Volker Perthes, der Direktor der
Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.
Würde der Verfassungsvertrag Wirklichkeit, wäre
übrigens auch Henry Kissingers Frage nach der Telefonnummer
für Europa beantwortet. Unter (00 32) 2 281 6167 könnte
er sich zu Javier Solana durchstellen lassen — sollte der
derzeitige Hohe Vertreter für die GASP erster
europäischer Außenminister werden.
Text: Peter Müller
Fotos: Marc Mendelson
Erschienen am 22. März 2007