Wir wissen jetzt also, dass Abgeordnete nicht nur arbeiten, wenn wir sie im Plenarsaal sehen, ja dass sich die meiste Arbeit außerhalb abspielt. Was passiert dann aber in der Zeit, in der die Abgeordneten nicht einmal in Berlin sind? Wahlkreiswochen sind schließlich häufiger als Sitzungswochen. Bei jedem Abgeordneten ist das anders. Aber auch da hört der Stress nicht auf, wie einige Beispiele zeigen.
Wenn Christine Scheel, Finanzexpertin von
Bündnis 90/Die Grünen, in Sitzungswochen von Termin zu
Termin hetzt, dann hofft sie mitunter darauf, am Ende der Woche,
wenn sie in ihren bayerischen Wahlkreis Aschaffenburg heimkehrt,
mal durchatmen, ausspannen zu können. Und, klappt das auch?
Scheel lacht. Der Unterschied zwischen der Woche in Berlin und der
Woche im Wahlkreis liegt zwar auf der Hand. Aber was den
Arbeitsaufwand betrifft, ist er weder weniger noch mehr, sondern
„einfach nur anders”.
Und seit Bündnis 90/Die Grünen in der Regierung waren,
ist das Interesse an den einzelnen Abgeordneten größer
geworden. Scheel schätzt, dass sich die Zahl der Anfragen
verdreifacht hat. Alle wahrzunehmen — ein Ding der
Unmöglichkeit. Zusammen mit ihren Mitarbeitern muss sie auch
die Wahlkreiswochen durchstrukturieren, um wenigstens den
wichtigsten Anliegen entsprechen zu können. Scheel ist durch
Bürgerinitiativen in die Politik gekommen, hat einige selbst
mit gegründet — und wirkt auch heute noch darin mit. Als
Grüne, die per Landesliste in den Bundestag eingezogen ist,
kommen auf sie aber auch jede Menge weiterer Termine
außerhalb des eigenen Wahlkreises hinzu, denn die Basis im
ganzen Land erwartet, ihre Abgeordnete von Zeit zu Zeit zu sehen
und unmittelbar politische Projekte durchzusprechen. Die weiten
Strecken legt Scheel alle mit dem Zug zurück. Das ist für
sie nicht nur die ökologischste Lösung, sondern auch die
zeitlich ökonomischste: Da sitzt sie dann mit dem Laptop auf
dem Schoß und bereitet die nächsten Vorträge und
Termine vor.
Bio-Tour im Wahlkreis
Matthias Miersch, im Wahlkreis Hannover-Land
II direkt gewählter SPD-Abgeordneter, erreichen wir in seiner
Kanzlei. Der Rechtsanwalt gehört zu den Abgeordneten, die mit
Blick auf die Zeit nach dem Mandat nicht riskieren wollen, den
Kontakt zur freiberuflichen Tätigkeit zu verlieren. So ist er
in Wahlkreiswochen an manchen Tagen als Anwalt tätig.
„Durchschnittlich vier Stunden täglich”,
schätzt er, manchmal sieht man ihn auch gar nicht in der
Kanzlei. Da ist er beispielsweise auf „Bio-Tour”, wie
er jene Aktion mit Besuchen bei Firmen und Projekten nennt, die in
seinem Wahlkreisetwas mit Energie zu tun haben.
Verblüfft hat er schon viele Bürger mit seinem Konzept,
auf sie zuzugehen. Statt regelmäßiger
Bürgersprechstunden zieht er von Marktplatz zu Marktplatz,
baut da einen Stand auf und steht für die Bürger zur
Verfügung. „Wie, sind schon wieder Wahlen?”,
lautete eine spontane Frage. Nach seinem Eindruck kommt man auf
diese Weise deutlich leichter ins Gespräch. Mit den
Bürgermeistern aller Städte und Gemeinden im Wahlkreis
hat er einen „ständigen Ausschuss” gebildet, bei
dem sie alle Themen ansprechen, die für die Kommunen
interessant sind. Wie ist das mit der Gewerbesteuer? Und mit der
Gebäudesanierung? Hier bringt Miersch die Hintergründe
der Bundespläne mit und bekommt vermittelt, wie es vor Ort
wirkt. Aktuell zum Beispiel die Warnung, der Bund möge in
Sachen Ausbau der Kinderbetreuung nicht zu viele Details
vorschreiben. Der Bedarf in den einzelnen Städten sei nun
einmal höchst unterschiedlich.
Miersch überlegt mit seinen Mitarbeitern immer wieder, wie sie
Themen auf die kommunale Ebene und auf die einzelnen Menschen
„runterzoomen” können. Das neueste Ergebnis: ein
Stromsparwettbewerb unter allen zwölf Kommunen seines
Wahlkreises. Da wird repräsentativ der Stromverbrauch
gemessen, eine Woche intensive Aufklärung betrieben, wo der
einzelne Haushalt sparen kann, und dann erneut gemessen: Ein
Spektakel nach dem Vorbild von „Spiel ohne Grenzen”,
das jeden Einzelnen in die Klimaschutzpolitik mit einbeziehen
soll.
Mobiles Abgeordnetenbüro
Auch Katja Kipping sitzt gerade in einer
Besprechung mit ihrem Team. Aufgabe: Ideen entwickeln, wie man in
ihrem Wahlkreis in Dresden das Projekt „Sozial-Ticket”
voranbringen könnte. Eine Idee, die soeben entstanden ist:
prominente Dresdner zu öffentlichen Statements gewinnen, um
den Gedanken voranzubringen, dass ALG-II-Bezieher, die sich normale
Fahrpreise nicht leisten können, künftig mit einem
Sozialticket wieder mobil sein können. Für die Fraktion
Die Linke. ist Kipping über die sächsische Landesliste in
den Bundestag eingezogen. Am Morgen hat sie bereits den Verein
„Arbeit und Lernen” besucht und sich über die
Realität von Beschäftigungsmaßnahmen informiert.
Eine Erkenntnis, in der Kipping bestärkt wurde, dass nicht nur
die schlechte Bezahlung und der Zwang ein Problem bei Ein-Euro-Jobs
sind: Auch die zeitliche Befristung derartiger Beschäftigungen
stößt in der Praxis auf starke Bedenken: „Kaum
haben sich die Menschen richtig eingearbeitet, da müssen sie
auch schon wieder gehen.”
In ihrem Wahlkreisbüro, das in eine große
„WIR-AG” integriert ist, steht sie in Wahlkreiswochen
allen Bürgern zu einer Sprechstunde zur Verfügung.
Jüngst nahm sie Beschwerden einer
Akademiker-Arbeitslosen-Initiative über Gängeleien in der
Arbeitsagentur entgegen. Das will sie gleich mal mit dem
Agenturchef besprechen. Sagt's und schwingt sich aufs Fahrrad. Auch
das ist ein Projekt. Die Aufschrift „mobiles
Abgeordnetenbüro Katja Kipping” verleitet
tatsächlich häufiger dazu, dass Bürger sie
ansprechen.
Ratinger „Spiesratze”
Die jederzeitige Ansprechbarkeit steht auch
bei Detlef Parr im Vordergrund. Auf dem Briefkopf des
FDP-Abgeordneten aus dem Kreis Mettmann, der über die
NRW-Landesliste in den Bundestag einzog, steht sogar seine
Privatadresse. Das führt dazu, dass er morgens nach dem Besuch
des Briefträgers einen zehn bis 15 Zentimeter hohen Poststapel
auf dem Schreibtisch hat. Ungefiltert durch irgendwelche
Büros, halt „der direktere Abgeordnete”. Den
Arbeitsrhythmus in Wahlkreiswochen geben die zehn Ortsverbände
vor, deren Kreisvorsitzender er zugleich ist. Und dann ist
„Berlin” auch nie ganz aus dem Blick. Täglich
kommen auch Rückmeldungen aus dem Bundestagsbüro, ist
Parr über Fax, E-Mail und Telefon mit dem Fortgang der
Bundespolitik verbunden.
Wahlkreis ist für Parr „pulsierender Alltag”.
Dabei sieht er keinen Unterschied zwischen einem direkt oder per
Liste gewählten Abgeordneten. „Die Leute haben doch auch
mich gewählt, also bin ich auch für sie da.”
Gesicht zeigen bei vielen Veranstaltungen ist für ihn ein
absolutes Muss, und besonders viel Spaß macht ihm das bei der
Heimat- und Brauchtumspflege. Als karnevalsbegeisterter Politiker
tanzte er selbst schon im Männerballett mit und zählt zu
den aktiven Mitgliedern der Ratinger „Spiesratze”. Kein
Wunder, dass Parr auch schon sein Ebenbild aus Pappmaché in
Karnevalsumzügen gesehen hat. Eine ganze besondere Art
für Abgeordnete, während der Wahlkreiswochen „auf
der Straße” Präsenz zu zeigen.
Wahlkreise
Die 299 Wahlkreise bei der
Bundestagswahl. Die Färbung zeigt, welche Partei bei der Wahl
2005 das Direktmandat gewonnen hat. © DBT/Karl-Heinz Döring.
Mit den Augen der Wähler
Wenn Hubert Hüppe freitagabends zu
Hause in seinem Wahlkreis in Unna ankommt, dann liest er erst
einmal genau in den Lokalzeitungen nach, was die Menschen in den
zehn Stadtund 25 Ortsverbänden seines Wahlkreises so alles
beschäftigt hat. Denn vieles davon wird bereits bei den ersten
Terminen am Wochenende zur Sprache kommen. Er versucht, die
Wirklichkeit seiner Wähler auch aus anderen Perspektiven
wahrzunehmen. Und so hat er schon einmal im weißen Kittel in
der Frühschicht auf einer Intensivstation des örtlichen
Krankenhauses gearbeitet. Oder als Pfleger im Pflegeheim. Gerade
bereitet er ein Forum zur Integration von Behinderten in
Regelschulen vor. Hüppe ist Behindertenbeauftragter der
Unionsfraktion.
Und das bricht er mit interessanten Projekten nicht nur auf seinen
eigenen Wahlkreis herunter, das bedeutet für ihn auch, in
Wahlkreiswochen bundesweit für Veranstaltungen zur
Verfügung zu stehen. Hier ein Vortrag in Borken, dort der
Besuch des Ärztetages in Münster, Thema Bioethik in Ulm.
„Das geht manchmal ganz schön rund”, sagt
Hüppe. Aber ohne Seufzen. Jeden Tag zudem die Anrufe aus
seinem Berliner Büro, oft in seiner Beauftragtenfunktion:
„Sollen wir hier einsteigen?” „Möchten Sie
dazu etwas sagen?” „Wie sollen wir mit dieser Einladung
umgehen, wie mit jener?”
Nebenbei organisiert Hüppe als Kreisvorsitzender die
örtliche Debatte über die Familienpolitik seiner Partei,
bereitet für den Abend einen Vortrag über
Patientenverfügungen in Holzwickede vor und versucht dabei
eines immer noch im Blick zu behalten: Zeit für die Familie.
Da der Morgen und der Abend von Verpflichtungen kaum freizuhalten
sind, versucht er seine drei Kinder nach dem Schulbesuch wenigstens
mittags und nachmittags zu sehen. Das ist ein klarer Vorteil von
Wahlkreiswochen. Doch sonst, wenn der Stress wieder von allen
Seiten anklopft, wünscht er sich auch schon mal „eine
Sitzungswoche zum Ausruhen” herbei.
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Text: Gregor Mayntz
Aktualisiert am 7. Juli 2008