ÜBERWACHUNG
Die neuen Sicherheitsgesetze stellen Bürger unter Generalverdacht - und kollidieren mit der Verfassung
Als vor 15 Jahren der politische Streit um die Einführung des Großen Lauschangriffs begann, warb der damalige Präsident des Bundeskriminalamts dafür, der Polizei nicht nur diesen Lauschangriff zu gestatten, sondern ihr auch "einen gewissen Vertrauensvorschuss" zu geben. Dieser Vertrauensvorschuss sollte partiell an die Stelle des Rechtsschutzes treten - denn der Lauschangriff war und ist ja eine heimliche Angelegenheit: Wenn Wanzen in der Wohnung platziert werden, ohne dass der Bewohner davon erfährt, dann kann er sich nicht juristisch dagegen wehren. Daher meinte der BKA-Präsident: "Der Bürger darf das Zutrauen haben, dass der Rechtsgebrauch in einem rechtsakzeptablen Rahmen geschieht."
So ähnlich klingt es heute, wenn die Bundeskriminalisten für die Online-Durchsuchung werben, bei der die elektronischen Wanzen via Internet im Computer installiert werden. Man nennt sie Trojaner; mit ihrer Hilfe soll die Polizei heimlich auf Texte und Dateien zugreifen können. Der Bundesgerichtshof hat festgestellt, dass es eine gesetzliche Grundlage derzeit nicht gibt. Deshalb drängen Sicherheitspolitiker und Kriminalisten, der derzeitige Chef des Bundeskriminalamts und der Bundesinnenminister an der Spitze, ein solches Gesetz eilends zu erlassen - mit weiten Befugnissen für die Polizei. Die Begründungen klingen exakt so wie einstmals bei der Einführung des Lauschangriffs: Es dürfe keine rechtsfreien Räume und keine Sicherheitsdefizite geben. Heute heißt die Bedrohung "internationaler Terrorismus"; damals hieß sie "organisierte Kriminalität".
Bisher ist stets nur über einzelne Maßnahmen und Gesetze gestritten worden. Von jedem einzelnen dieser vielen Gesetze und von jeder einzelnen dieser vielen Maßnahmen hing angeblich jeweils die Zukunft der inneren Sicherheit ab. So war es beim Lauschangriff, bei der Ausweitung der Telefonüberwachung, beim Luftsicherheitsgesetz, beim biometrischen Personalausweis, so war es bei der Schleier- und Rasterfahndung, bei der Anti-Terror-Datei und beim heimlichen Zugriff des Verfassungsschutzes auf private Bankkonten. Und so ist es heute bei Diskussion um die Videoüberwachung, die automatische Gesichtserkennung, die Verwendung von Mautdaten zur Fahndung und zur Überwachung, so ist es bei der geforderten Vorratsspeicherung der Telefon- und Internetdaten, der Fingerabdrücke und der Passfotos aller Bürger, und so ist es beim Streit um die geheime Online-Durchsuchung privater Computer.
In der Summe geht es den neuen Sicherheitsgesetzen nicht mehr primär um die Verfolgung begangener Straftaten, auch nicht primär um die Verhinderung einzelner krimineller Handlungen. Es geht vielmehr darum, ein Frühwarnsystem zu errichten, um Risiken krimineller oder terroristischer Art schon im Vorfeld ihrer Realisierung zu erkennen und zu bekämpfen. Dabei werden, und das ist der Preis dieses Frühwarnsystems, Mittel und Methoden angewendet, die im Strafrecht nur gegen Verdächtige möglich waren: Abhören, Belauschen, Durchsuchen. Der staatliche Zugriff auf private Konten, Dateien und Gespräche wird umfassend erlaubt, die Legitimations- und Legalitätsgrenzen, die bisher dabei galten, werden vernachlässigt; die Größe der terroristischen Bedrohung gilt als Begründung.
Das Gesetz mit dem monströsen Namen "Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz", das zu Jahresbeginn in Kraft getreten ist, hat nicht nur den - notwendigen - Ausbau der Kompetenzen des Bundeskriminalamts gebracht. Es hat zugleich einer seit langem zu beobachtenden Entwicklung einen neuen Schub gegeben: Der Geheimdienst übernimmt immer mehr Polizei- und Staatsanwaltsaufgaben, ohne aber den gerichtlichen Kontrollen zu unterliegen, wie sie für die ordentlichen Sicherheitsbehörden vorgesehen sind. Das läuft letztendlich auf eine Verschmelzung von Polizei und Geheimdienst hinaus.
Diese Entwicklung hat 1994 begonnen: Damals wurde der Bundesnachrichtendienst das große Ohr der Polizei; er bekam das Recht, zur Bekämpfung der Drogenkriminalität Gespräche des internationalen Telefonverkehrs aufzuzeichnen, sobald bestimmte Stichwörter fallen; die Erkenntnisse darüber werden, ohne dass die Betroffenen davon erfahren, an andere Sicherheitsbehörden weitergegeben. Heimliche Ermittlungsbefugnisse dieser Art wurden und werden seitdem stark ausgeweitet. Den Geheimdiensten sind Sonderrechte eigentlich nur zum Schutz der freiheitlichen Grundordnung eingeräumt. Die neuen Gesetze verleihen sie ihnen aber auch zur allgemeinen Kriminalitätsbekämpfung, losgelöst von den Kontrollen, die sonst bei der Verhütung und Verfolgung von Straftaten gelten. Die Frage lautet: Wenn ein Geheimdienst wie eine Polizei arbeitet, muss er dann nicht künftig auch wie die Polizei angeleitet und kontrolliert werden - von Staatsanwaltschaft und Justiz?
Telefonüberwachung, Kontoüberwachung, Videoüberwachung, Computerüberwachung: Jede einzelne dieser Maßnahmen mag für sich genommen noch für tolerabel gehalten werden. Von einer einzelnen Videokamera und einer einzelnen Speichelprobe geht keine Gefahr aus. Die gefährliche Totalität ergibt sich aus der Summe. Die Erfassungsnetze werden dichter, die beobachtungsfreien Zonen kleiner.
Jeder Einzelne gilt als Risikofaktor, jeder muss es sich gefallen lassen, dass er ohne einen konkreten Anlass "zur Sicherheit" überwacht und dass seine Kommunikationsdaten "auf Vorrat" sechs Monate lang gespeichert werden. Das Sicherheitsrecht verlässt seine bisherigen Anknüpfungspunkte: Das Strafrecht den konkreten Tatverdacht, das Polizeirecht den der konkreten Gefahr. Das bisherige Normensystem löst sich auf in einem einheitlichen Recht der inneren Sicherheit, das immer weniger zwischen Unschuldigen und Schuldigen, zwischen Verdächtigen und Unverdächtigen unterscheidet. Das bisherige Rechtsschutzsystem steht einigermaßen hilflos neben dieser Entwicklung.
Das Bundesverfassungsgericht warnt und mahnt und versucht, die rechtsstaatlichen Grundsätze immer wieder zu restaurieren - aber die Politik koppelt sich von Karlsruhe ab. Das Gericht entscheidet nach den alten rechtsstaatlichen Kriterien, die Politik folgt ihren neuen präventionsstaatlichen Plänen. Die neuen Sicherheitsgesetze und die weiteren Pläne reiben an der Rechtsprechungslinie, die das höchste Gericht mit und seit dem Urteil zum Großen Lauschangriff entwickelt hat; in einigen Fällen kollidieren sie sogar damit: Vor gut drei Jahren, am 3. März 2004, hat Karlsruhe in einer Paukenschlag-Entscheidung aus dem Großen Lauschangriff einen kleinen gemacht und in der Begründung des Urteils mit dem politischen Vorurteil aufgeräumt, dass man Grundrechte kleinmachen müsse, um Straftaten zu bekämpfen.
Das Gericht schloss eine Überwachung ins Blaue hinein aus; und es verwarf das Grundstrickmuster der neueren Sicherheitsgesetze, das im Zweifel der Sicherheit den Vorzug vor den Grund- und Bürgerrechten gibt. Am selben Tag erklärten die Verfassungsrichter die Ausweitung der Befugnisse des Zollkriminalamts zur Überwachung des Brief- und Fernmeldeverkehrs für illegal.
Von da an ging es Schlag auf Schlag: Am 18. Juli 2005 zerriss das Gericht das deutsche Gesetz zur Einführung des Europäischen Haftbefehls. Wenig später wurde die präventive Telefonüberwachung durch die Polizei für verfassungswidrig erklärt. Im Mai 2006 verwarf das Gericht die Rasterfahndung, wie sie nach dem 11. September 2001 mit viel zu unbestimmten Kriterien praktiziert wurde. Und das Gericht schrieb dem Gesetzgeber einen Merkspruch ins Stammbuch: "Daran, dass er auch den Umgang mit seinen Gegnern den allgemein geltenden Grundsätzen unterwirft, zeigt sich gerade die Kraft des Rechtsstaats." Anders gesagt: Ein Staat, der im Glauben, auf diese Weise den Rechtsstaat zu verteidigen, sein Recht verkürzt, ist nicht stark, sondern schwach.
Am 15. Februar 2006 erklärten die Verfassungsrichter das Luftsicherheitsgesetz für verfassungswidrig. Es sollte die Rechtsgrundlage dafür sein, dass entführte Flugzeuge von der Bundeswehr abgeschossen werden dürfen. Diese Ermächtigung, so die Richter, widerspreche der im Grundgesetz garantierten Menschenwürde. Die Botschaft des Urteils war die: Der Terrorismus darf den Gesetzgeber nicht zu Mitteln und Methoden verleiten, die das zivile Leben eines Landes und seiner Rechtsordnung gefährden.
Den vorläufigen Abschluss der höchstrichterlichen Ermahnungen an Legislative und Exekutive bildete das Cicero-Urteil vom 27. Februar 2007, das eindringlich davor warnte, Grundrechte (in diesem Fall das der Pressefreiheit) den vermeintlichen Interessen der inneren Sicherheit zu opfern.
Es ist, als gäbe es zwei Realitäten: die Realität von Karlsruhe und die von Berlin. Besonders deutlich wird das bei Plänen zum Großen Lauschangriff: Die Aufzeichnung der Gespräche soll auch dann weiterlaufen, wenn über höchst Intimes gesprochen wird; sie soll nämlich automatisiert werden. Ein Richter, so der Plan des Bundesinnenministers, soll später das Band abhören und entscheiden, welche Passagen für die Polizei relevant sind.
Das Verfassungsgericht hatte aber ausdrücklich festgestellt: "Sollte eine Situation eintreten, die dem unantastbaren Kernbereich (Anm.: der Menschenwürde) zuzurechnen ist, muss die Übertragung abgebrochen werden. Dennoch erfolgte Aufzeichungen sind zu vernichten." Für ein "Richterband" ist da kein Platz.
Es bahnt sich, wenn die Pläne zu den neuen Sicherheitsgesetzen Realität werden sollten, ein massiver Verfassungskonflikt an.