Katrin Göring-Eckardt: „Ich lese ‚Wie es leuchtet’ von Thomas Brussig.“

In seinem Roman über die Wendezeit präsentiert Brussig sich als Meister des kleinen Witzes, der Anekdote, des Blicks aus dem Augenwinkel, als feiner Beobachter. Er beschreibt in seinem Buch kleine Momente, scheinbar nebensächliche Ereignisse und Geschichten, aber gerade sie können uns in diese Zeit zurückversetzen. In eine Zeit, die so anders war als alle anderen. Eine Zeit, in der der Alltag außer Kraft gesetzt war, die Verhältnisse verrückt spielten und scheinbar alles möglich war. Erinnerungen werden wach, längst Vergessenes kommt in den Sinn, Gefühle und Empfindungen von damals werden wieder spürbar. Ein buntes Potpourri aus Geschichten über eine rollschuhfahrende Physiotherapeutin, einen verkannten Künstler oder eine clevere Anwältin. Fast jeder kann sich darin wieder finden, entweder selbst oder in der Beobachtung einzelner Figuren, denen jeder und jede schon einmal begegnet ist, persönlich oder in Erzählungen. Brussig geht mit seinen Figuren behutsam um, jede nimmt er ernst, jede behält ihre Würde. Er enthält sich einer direkten Wertung und Beurteilung. Denn wer könnte schon wirklich darüber urteilen, was damals falsch und was richtig war in einer Zeit, in der es scheinbar keine Regeln gab.

In diesem Buch hängt alles mit allem zusammen und jeder mit jedem. Der Schmetterling, dessen Flügelschlag eine ganze Welt aus den Angeln zu heben vermag ... Ein schönes Bild, und ein wichtiges, damals und heute – eine Gesellschaft, in der jeder mit jedem verbunden ist wie durch ein unsichtbares Netz. Kleine Dinge entfalten eine große Wirkung, Mut und Entschlossenheit statt Resignation und Verzagtheit. Menschen wachen auf, lassen sich erwecken von den Ereignissen, die geschehen. Die Zeichen der Zeit werden erkannt und die Chancen ergriffen. Wann, wenn nicht jetzt, war das Motto dieser Zeit. Wer, wenn nicht wir, treibt die Menschen, treibt die Geschichte voran. Die friedliche Revolution ist überall, nichts bleibt wie es war, alles verändert sich.

Wie es leuchtete damals – die Menschen, die Ereignisse, ja die Zeit selbst, welche Hoffnungen, welcher Aufbruchs- und Veränderungswillen. Ein wenig Wehmut steigt auf. Ist denn etwas übrig geblieben von diesem visionären, auch utopischen Blick auf die Zukunft, von diesem, wie man damals gerufen hat, „Wahnsinn“…? Und doch, die Ereignisse dieser Zeit sind nicht spurlos an uns, an unserer Gesellschaft vorbeigegangen, sie haben das Land verändert, sie haben die Menschen verändert und werden es auch weiterhin tun.

„Wie es leuchtet“ ist ein Buch über die Wende ohne Ostalgie und Verklärung. Ein Buch über eine unglaubliche Zeit. Es ist auch ein Buch von Menschen. Das ist das Gute.

Thomas Brussig, Wie es leuchtet, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2004, Gebunden, 672 Seiten, 19,90 EUR.

Foto: Deutscher Bundestag
Erschienen am 14. Februar 2005